»Statt die von Ihnen gelieferten Uniformen zu benutzen, ziehen einige Soldaten vielleicht ihre alten Waffenröcke vor und behalten sie, oder sie bringen ihren Regimentsschneider dazu, ihnen eine neue zu schneidern. Ich weiß nicht viel von Frankreich, Deutschland oder Russland, aber die Leute in England mögen es nicht, gesagt zu bekommen, was sie zu tun oder anzuziehen haben. Sie finden stets Mittel und Wege, um solche Anweisungen zu umgehen.«
»Und was ist mit den Bienen?«, fügte Virginia unerwarteterweise hinzu. »Wie viele von ihnen werden die Hauptinsel tatsächlich erreichen? Wie viele Bienen brauchen Sie, um alle Gegenden abzudecken, in denen die Armee stationiert ist? Haben Sie auch wirklich genug? Und was ist, wenn es einen Kälteeinbruch gibt und die Bienen sterben, oder wenn es in England irgendein Tier gibt, das sie frisst, oder wenn sie sich einfach irgendwo niederlassen, einen neuen Staat gründen und hier zu einem Teil der natürlichen Umgebung werden? Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie sich mit den einheimischen Bienen kreuzen, mit den britischen Bienen, und jede Spur von Aggressivität verlieren, auf der Ihr Plan beruht.«
»All diese Faktoren sind berücksichtigt worden«, erwiderte der Baron mit knochentrockener Stimme. Aber Sherlock hatte den Eindruck, dass dabei zum ersten Mal so etwas wie Unsicherheit durchklang. »Und selbst wenn einige Uniformen vorher gewaschen worden sind und ein paar Bienen sterben, was soll’s? Viele Angriffe werden trotzdem erfolgreich sein. Es wird ein Massensterben geben. Und die britische Armee wird gelähmt sein vor Angst. Gelähmt.«
»Sie verstehen einfach nicht, wie die Briten denken, nicht wahr?«, spottete Sherlock. In seinem Geist blitzten Erinnerungen an diverse Schulstunden auf, an das, was er – zusammengekauert auf einem Stuhl in der Bibliothek seines Vaters – in Büchern und Zeitungen gelesen oder von seinem Bruder Mycroft gehört hatte.
»Haben Sie jemals etwas von dem Todesritt der leichten Brigade gehört?«
Das Knarren und Knarzen stoppte abrupt, und plötzlich hatte Sherlock das Gefühl, als ob viele Ohren aufmerksam seinen Worten lauschten.
»Oh, ja«, zischte der Baron. »Ich habe von dem Todesritt der leichten Brigade gehört.«
»Während des Krimkrieges 1854«, fuhr Sherlock unbeeindruckt fort, »bekamen die Soldaten des 4. und 13. leichten Dragonerregiments, des 17. Ulanenregiments sowie des 8. und 11. Husarenregiments während der Schlacht von Balaclava den Befehl, die russischen Stellungen anzugreifen. Sie stürmten durch ein enges Tal voran, in dem sie von vorne und von beiden Seiten russischem Kanonenfeuer ausgesetzt waren. Trotzdem sind sie einfach weitergeritten und haben, ohne in Panik zu geraten oder zu meutern, ihre Befehle ausgeführt. Ich behaupte nicht, dass blinder und bedingungsloser Gehorsam eine gute Sache ist, aber britische Soldaten haben praktisch ein Rückgrat aus Eisen und die Disziplin mit der Muttermilch aufgesogen. Ich weiß das, denn mein Vater ist Offizier. Sie geraten nie in Panik. Niemals. Nein, selbst wenn es Tote gibt, wird man damit umgehen, als wäre es ein gewöhnlicher Cholera- oder Pockenausbruch. Verstehen Sie denn nicht? Sie werden es einfach ignorieren. Das ist es, was die Briten zu tun pflegen. Deswegen ist das Britische Empire so groß und so stark. Wir ignorieren einfach die Dinge, die uns nicht passen.«
»Gut gesprochen«, sagte der Baron. »Aber das kaufe ich dir nicht ab. Offensichtlich möchtest du daran glauben, dass euer Empire auf stabilem Felsfundament errichtet ist. Doch da irrst du dich. Die Fundamente sind morsch, und das prachtvolle Gebäude darauf wird in sich zusammenfallen, wenn man nur kräftig genug dagegentritt.
Du denkst, dass morgen noch alles so ist wie heute. Aber das wird nicht der Fall sein. Die Welt wird sich ändern und das Gleichgewicht der Mächte sich zu Gunsten meiner Partner in der Paradol-Kammer verschieben.«
Paradol-Kammer? Was war das? Während Maupertuis weitersprach, prägte sich Sherlock den seltsamen Begriff genau ein. Könnte sich das doch noch als wichtiger und verhängnisvoller Versprecher erweisen, der Mycroft sicher brennend interessieren würde.
Vorausgesetzt natürlich, dass sich Sherlock überhaupt noch einmal die Gelegenheit bieten würde, seinen Bruder wiederzusehen.
»Du möchtest daran glauben, dass dein Bruder weiterhin eine wichtige Rolle in der britischen Regierung spielen wird« fuhr Maupertuis fort. »Aber das wird er nicht. Ebenso wie der Rest seiner Kollegen wird er von der Flutwelle der Geschichte hinweggeschwemmt werden. Wenn euer aufgeblasenes kleines Land zur bloßen Provinz einer europäischen Supermacht geworden ist, die es in Größe und Macht mit Amerika aufnehmen kann, sind Mycroft und seinesgleichen überflüssig. Ihre Sorte Mensch wird in der neuen Weltordnung nicht mehr benötigt. Sie werden der Guillotine oder Garotte anheim gegeben und nicht überleben.«
Maupertuis’ Stimme war mittlerweile zu einem leisen Fauchen geworden, so sehr hatte er sich in seine Gifttirade auf ein Land und ein Volk hineingesteigert, die er abgrundtief verabscheute. Warum hasste er Großbritannien so sehr? Sherlock fragte sich unversehens, welche Taktik wohl am vielversprechendsten sein würde. Sollte er weiterhin eher auf ein rationales Streitgespräch setzen oder den Baron so provozieren, dass dieser sein emotionales Gleichgewicht verlor?
Wie er sich auch entschied, der Ausgang war ungewiss, und aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie beide sterben.
»Er ist verrückt«, sagte Virginia plötzlich mit leiser, aber fester Stimme zu Sherlock. »Völlig verrückt. Es sieht doch jeder, dass sein Plan irre und sein Wunschziel unmöglich ist. Ob es ihm nun gefällt oder nicht: Großbritannien ist eine Weltmacht. Und das kann er nicht rückgängig machen.«
»Ich bin erstaunt«, fauchte der Baron, »dass du dieses Land so energisch verteidigst, Mädchen.«
Überrascht, dass der Baron sie plötzlich mit einbezog, blickte Virginia auf. »Erstaunt? Warum?«, fragte sie. »Ich mag es nun mal nicht, wenn unschuldige Menschen getötet werden. Ist das so ungewöhnlich?«
»Dein Amerika hat über zweihundert Jahre lang zu diesem Land gehört«, hob der Baron hervor. »Dort wurde alles von London aus geregelt. Ihr wart einfach nur so etwas wie eine weitere Grafschaft. So wie Hampshire oder Dorset, bloß größer und weiter weg. Ihr musstet erst gegen die britische Herrschaft rebellieren, um das Joch von Westminster abzuschütteln.«
»Und das haben wir in einem sauberen Kampf getan«, stellte sie klar. »Nicht mit Hilfe von irgendwelchen Tricks, Verschwörungen oder Geheimplänen. Wenn es schon Kriege geben muss, dann sollten sie so sein: fair, offen und sauber. Es sollte Regeln geben für den Krieg. Genauso wie fürs Boxen.«
»Wie naiv«, murmelte der Baron. »Wie überaus naiv. Und so sinnlos. Leider werdet ihr es nicht mehr erleben, wie eure wertvolle Weltordnung einstürzt. Denn vorher werdet ihr beide sterben.«
»Sie wirken gerne im Dunkeln, nicht wahr?«, sagte sie. Der harte Ton in ihrer Stimme hatte Sherlocks Aufmerksamkeit erregt. Er warf einen Blick auf Virginia und fragte sich, was sie im Schilde führte.
»Der erfolgreiche Kämpfer schlägt aus der Dunkelheit zu und begibt sich danach wieder in ihren Schutz, so dass der größere und stärkere Feind nicht weiß, wo er zuschlagen soll«, flüsterte der Baron. »So sieht die Kriegführung der Zukunft aus. So kann ein kleinerer Gegner seinen viel größeren Feind bezwingen. Durch List.«
»Sie ziehen die Dunkelheit vor? Dann sehen wir doch mal, was Sie vom Sonnenlicht halten«, schrie Virginia und sprang auf die Beine. Sherlock spürte, wie jemand im dunklen Bereich des Raumes in hektische Aktivität verfiel. Offensichtlich MrSurd, der sich anschickte, seine mit einer Metallspitze versehene Peitsche zum Einsatz zu bringen. Aber Virginia huschte rasch zur Seite, bevor sich die Peitschenzunge in die Rückenlehne des Stuhles fraß, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Sie packte die schwarzen Samtvorhänge, die die eine Raumseite säumten, und zog mit aller Kraft daran. Sherlock hörte Stoff reißen und dann – mit einem Geräusch, das an ferne Regenschauer erinnerte – kam in einer langsamen weichen Stofflawine eine komplette Vorhangbahn herunter. Grelles Sonnenlicht flutete einen Teil des Raumes.