Schwarz gekleidete und maskierte Gestalten, die um sie herum postiert waren, bedeckten schützend ihre Augen. Aber Sherlocks Blick war auf die Gestalt des Barons gerichtet, der in einem überdimensionalen Stuhl am anderen Tischende saß. Es war tatsächlich derselbe weißhaarige Mann mit den rosafarbenen Augen, den er in der Kutsche in Farnham gesehen hatte. Er blinzelte ins Licht und bedeckte dann mit einer Hand sein Gesicht, während er sich mit der anderen eine Brille mit dunklen Linsen aufsetzte, um die empfindlichen Augen zu schützen.
Seine dünnen Arme waren irgendwie verbogen und sahen aus wie die bizarr gekrümmten Äste einer uralten Eiche. Sein Kopf hing kraftlos auf eine Schulter herab. Gekleidet war er in eine Art Militäruniform, deren schwarzer Stoff auf Brust und Ärmelaufschlägen mit goldenen Litzen verziert war. Um seine Stirn herum zog sich ein merkwürdiger Gegenstand, der wie ein Holzrahmen aussah. Plötzlich richtete sich sein Kopf auf, und unter den dunklen Linsen hervor glühten ihn seine Augen so durchdringend an, dass Sherlock fast ihre Hitze zu spüren meinte. Ihm fiel auf, dass Leinen vom Rahmen aus in die Höhe führten und dass diese genau in dem Moment straff gezogen worden waren, als Maupertuis’ Kopf sich aufgerichtet hatte.
MrSurd stand neben dem Baron. Das grelle Licht der Sonne brachte seine Narben so zum Leuchten, dass sie förmlich lebendig zu werden schienen und aussahen wie ein Haufen Würmer, die auf einem Totenschädel wimmelten. Mit einem Blick, der Tod und Verderben versprach, fixierte er Sherlock und Virginia und holte mit der Peitsche aus.
»Nein!«, zischte der Baron. »Sie gehören mir!«
Fast wie unter Zwang wanderte Sherlocks Blick nun wieder zum verdrehten Körper des Barons zurück. Er nahm weitere Seile wahr, die an kleineren, an Handgelenken und Ellenbogen montierten Holzrahmen befestigt waren, sowie einen größeren Holzrahmen, der seine Brust umschloss. Dickere Seile führten von diesem Brustrahmen in die Höhe. Als Sherlock ihnen mit den Augen zur Decke folgte, erkannte er, dass alle Seile an einem großen Balken befestigt waren, was wie ein über dem Baron schwebender Galgen aussah. An dem Sherlock zugewandten Balkenende war im rechten Winkel ein kleinerer Querbalken angebracht, der mit Metallhaken und auf winzigen Achsen gelagerten Rädchen übersät war.
Die Seile liefen durch die Haken und über die Rädchen wieder nach unten. Sherlock folgte ihnen mit dem Blick weiter nach hinten, wo maskierte, schwarz gekleidete Diener die Seilenden in Händen hielten. Es mussten gut zwanzig, vielleicht sogar an die dreißig Seile sein, die alle mit bestimmten Körperteilen des Barons verbunden waren. Und als Sherlock noch ungläubig auf die Szenerie starrte, setzten sich einige der Diener in Bewegung und zogen mit aller Kraft an ihren Seilen, wohingegen andere wiederum mit ihren Seilen nachgaben oder sie nur einfach lose in der Hand hielten, ohne daran zu ziehen. Und während sie das taten, richtete der Baron sich ruckartig auf.
Er war eine Marionette! Eine menschliche Marionette, die ausschließlich von anderen bewegt wurde.
»Ziemlich grotesk, was?«, zischte der Baron. Mund und Augen schienen die einzigen Körperteile zu sein, die er noch selbständig bewegen konnte. Seine rechte Hand hob sich und wies auf seinen Körper. Doch die Bewegung wurde von einer Reihe von Seilen erzeugt, die an Handgelenk, Ellenbogen und Schulter befestigt waren, sowie von feineren Schnüren, die man an Fingerringen fixiert hatte. Alle diese Körperteile bewegten sich nicht, weil der Baron sie kraft seines Willens dazu brachte, sondern weil seine schwarz gekleideten Diener vorhersahen, welche Bewegung er machen würde, wenn er könnte.
»Das ist das Vermächtnis, das mir das Britische Empire hinterlassen hat. Du hast den Todesritt der leichten Brigade erwähnt, Junge. Ein ödes, sinnloses Gefecht, ausgelöst durch missverstandene Befehle, geschehen in einem Krieg, der niemals hätte geführt werden dürfen. Ich war selbst dort, an jenem wolkenverhangenen Tag. Gemeinsam mit dem Earl of Lucan. Ich war sein Verbindungsoffizier zur französischen Kavallerie, die an seiner linken Flanke postiert war. Ich habe die Befehle gesehen, als sie von Lord Raglan eintrafen. Ich wusste, dass sie schlecht formuliert waren und dass Lucan sie missverstanden hatte.«
»Was ist passiert?«, fragte Sherlock.
»Während der Attacke wurde mein Pferd eingeholt und vom Kanonenfeuer so erschreckt, dass ich unmittelbar vor Hunderten von britischen Pferden abgeworfen wurde. Sie sind direkt über mich hinweggaloppiert. Ich bezweifle, dass sie mich überhaupt gesehen haben. Ich spürte, wie meine Knochen brachen, als die Hufe auf mich eintrommelten. Ob Beine, Arme, Rippen, Hüften, Schädel … alle größeren Knochen in meinem Körper waren gebrochen, und auch die meisten kleineren. Innen drin glich ich einem Puzzle.«
»Eigentlich hätten Sie sterben sollen«, keuchte Virginia überrascht, und Sherlock war nicht sicher, ob das mitfühlend oder bedauernd gemeint war.
»Ich wurde von meinen Landsleuten gefunden, nachdem die Briten von den russischen Kanonen in Stücke gerissen worden waren«, fuhr Maupertuis fort. »Sie haben mich vom Schlachtfeld getragen und meine Wunden versorgt. Sie haben mich zusammengeflickt, so gut sie konnten, und haben alles getan, damit meine Knochen heilten. Aber meine Wirbelsäule war gebrochen, und obwohl mein Herz immer noch schlug, konnte ich die Beine nicht mehr regen. Da sie es nicht wagten, mich allzu weit fortzubewegen, lag ich ein Jahr lang im Zelt. In der stinkenden Hitze und der eisigen Kälte der Krim. Ein ganzes Jahr lang. Und für jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde, jeden Tag, jede Woche und jeden Monat, die ich da lag, verfluchte ich die Briten und ihre dumme Einfältigkeit, mit der sie stur einfach Befehle befolgen, egal wie töricht diese auch sein mögen.«
»Sie sind freiwillig dort gewesen und haben es sich ausgesucht«, hob Sherlock hervor. »Sie haben eine Uniform getragen. Und Sie sind am Leben, während Hunderte von guten Männern umgekommen sind.«
»Und jeden Tag wünschte ich, ich wäre mit ihnen gestorben. Aber ich lebe, und ich habe eine Bestimmung: das Britische Empire in die Knie zu zwingen. Und mit dir fange ich an, Junge.«
Als er diese Worte ausspie, schien Maupertuis in die Luft emporzuschweben, um gleich darauf leicht wie eine Feder auf den Tisch herabzusinken. Die von seinen schwarz gekleideten Puppenspielern betätigten Seile über ihm strafften sich, und ein knarzendes Geräusch erfüllte den Raum, als die Seile und die Holzkonstruktion mit dem Gewicht des Barons belastet wurden. Irgendwie hatten die Diener erahnt, welche Bewegungen er von ihnen erwartete. Sherlocks Vermutung nach arbeiteten sie schon so lange mit ihm zusammen, dass sie seine Gedankengänge instinktiv erfassen und sie augenblicklich in entsprechende Bewegungen umsetzen konnten. Als Maupertuis’ Füße den Tisch berührten, sprang Sherlock von seinem Stuhl auf.
»Baron!«, rief MrSurd. »Das müssen Sie nicht selbst erledigen. Lassen Sie mich die Kinder umbringen.«
»Nein!«, fauchte der Baron. »Ich bin kein Krüppel! Ich werde diese lästige Brut selbst auslöschen! All die Monate, all die Zeit, die ich, zur Bewegungslosigkeit verdammt, damit verbracht habe, dieses Geschirrsystem zu konstruieren – sie waren nicht umsonst. Ich werde sie selbst töten! Verstehen Sie?«