»Ich bin mir nicht sicher, ob du das überhaupt könntest«, erwiderte Sherlock so gelassen, wie das unter den Umständen möglich war.
»Ich hab ’n paar echt miese Tricks drauf«, sagte der Junge. »Und ich hab ’n Messer.«
»Ja, aber ich habe die Boxwettkämpfe in der Schule genau studiert und verfüge über eine beachtliche Reichweite.« Sherlock beäugte den Jungen kritisch. Der raue Stoff seiner Kleidung war an manchen Stellen geflickt, und Gesicht und Hände hatten sicher schon länger keinen Kontakt mehr mit Wasser und Seife gehabt.
»Schule?«, fragte der Junge verwundert. »Die unterrichten Boxen an der Schule?«
»Auf meiner Schule machen sie’s jedenfalls. Sie sagen, das macht uns härter.«
Der Junge setzte sich neben Sherlock.
»Stimmt nicht. Das Leben macht dich härter«, murmelte er und fuhr dann fort: »Mein Name ist Matty. Matty Arnatt.«
»Matty, wie Matthew?«
»Vermutlich. Du lebst oben in dem großen Haus an der Straße, nicht?«
Sherlock nickte. »Ich bin für die Sommerferien hergekommen und zu Gast bei meiner Tante und meinem Onkel. Mein Name ist Sherlock, Sherlock Holmes.«
Matty blickte Sherlock skeptisch an. »Das ist aber kein richtiger Name.«
»Was? Sherlock?« Sherlock dachte einen Moment lang nach. »Was stimmt damit nicht?«
»Kennst du irgendeinen anderen Sherlock?«
Sherlock zuckte mit den Schultern. »Nein.«
»Wie heißt denn dein Vater?«
Sherlock runzelte die Stirn. »Siger.«
»Und dein Onkel? Der, bei dem du wohnst?«
»Sherrinford.«
»Hast du einen Bruder?«
»Ja, einen.«
»Wie ist sein Name?«
»Mycroft.«
Matty schüttelte irritiert den Kopf. »Sherlock, Siger, Sherrinford und Mycroft. Was sind das denn für Namen! Warum könnt ihr nichts Normales nehmen wie zum Beispiel Matthew, Luke oder John?«
»Das sind Vornamen«, erklärte Sherlock. »Und die gehören zur Familientradition. Jedes männliche Familienmitglied hat solch einen Namen.«
Er schwieg einen Moment. »Mein Vater hat mir einmal erzählt, dass ein Zweig unserer Familie ursprünglich aus Skandinavien stammt. Daher wohl die Namen. Oder so was in der Art. ›Siger‹ könnte skandinavisch sein, denke ich. Die anderen allerdings klingen für mich in der Tat eher nach altenglischen Ortsnamen. Obwohl mir völlig schleierhaft ist, woher dann ›Sherlock‹ kommt. Vielleicht gibt es ja dort auf irgendeinem Kanal eine Schleuse namens Sher Lock oder Sheer Lock.«
»Du weißt ’ne Menge Sachen«, sagte Matty. »Aber nicht viel über Kanäle. Durch eine Schleuse, die Sher Lock oder Sheer Lock heißt, bin ich noch nie gekommen. Aber sag mal, wie sieht’s denn mit Schwestern aus? Gibt’s da auch irgendwelche komischen Namen?«
Sherlock zuckte zusammen und blickte weg. »Lebst du hier in der Gegend?«
Matty blickte ihn einen Moment lang an. Dann schien er die Tatsache zu akzeptieren, dass Sherlock das Thema wechseln wollte. »Ja«, antwortete er. »Im Moment jedenfalls. Ich reise gewissermaßen so herum.«
Sherlocks Interesse war geweckt. »Reisen? Du meinst, du bist ein Zigeuner? Oder bei einem Zirkus?«
Matty schnaubte verächtlich. »Wenn mich jemand einen Zigeuner nennt, bekommt er von mir normalerweise eine verpasst. Und zu einem Zirkus gehör ich ehrlich gesagt auch nicht.«
Plötzlich stolperten Sherlocks Gedanken über etwas, das Matthew einen Augenblick zuvor gesagt hatte. »Du hast gemeint, dass du keine Schleuse namens Sher Lock oder Sheer Lock kennst. Lebst du etwa auf den Kanälen? Besitzt deine Familie einen Kahn?«
»Ich hab ein kleines Kanalboot. Aber keine Familie. Es gibt nur mich. Mich und Albert.«
»Dein Großvater?«, riet Sherlock.
»Mein Pferd«, korrigierte Matty ihn. »Albert zieht das Boot.«
Sherlock wartete einen Augenblick, um zu sehen, ob Matty fortfahren würde. Als er es nicht tat, fragte er: »Und was ist mit deiner Familie? Was ist mit ihr passiert?«
»Du stellst ganz schön viele Fragen, was?«
»Das ist eine Möglichkeit, um Dinge herauszubekommen.«
Matty zuckte die Achseln. »Mein Vater war bei der Navy. Ist mit einem Schiff weg und nie mehr wiedergekommen. Keine Ahnung, ob er ertrunken, irgendwo auf der Welt in einem Hafen hängengeblieben oder zurück nach England gekommen ist und dann einfach keine Lust mehr auf die letzten paar Meilen nach Hause hatte. Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben. Tuberkulose.«
»Das tut mir leid.«
»Sie hätten mich nicht noch einmal zu ihr gelassen, nachdem sie schon tot war«, fuhr Matty fort, als ob er Sherlock nicht gehört hätte. Gedankenverloren starrte er in die Ferne. »Sie ist einfach so dahingeschwunden. Wurde immer dünner und blasser. Es war, als ob sie der Tod stückchenweise geholt hat. Spuckte jede Nacht Blut. Ich hab gewusst, dass sie kommen und mich in ein Armenhaus stecken würden, wenn sie starb. Also bin ich abgehauen. Keine zehn Pferde bringen mich in eine von diesen Knochenmühlen. Die meisten, denen das passiert ist, sind nie wieder rausgekommen. Und wenn, sind sie Krüppel oder nicht mehr richtig im Kopf. Das Leben auf den Kanälen hat mir besser gefallen als das Rumgerenne. Da kommt man in kürzerer Zeit viel weiter voran.«
»Woher hast du das Boot?«, fragte Sherlock. »Hat es mal deiner Familie gehört?«
»Wohl eher nicht«, schnaubte Matty. »Lass es mich mal so sagen: Ich hab’s gefunden. Lassen wir es dabei.«
»Und wie kommst du über die Runden? Wovon bezahlst du dein Essen?«
Matty zuckte die Achseln. »Im Sommer arbeite ich auf den Feldern. Ich pflücke Obst oder schneide Weizen. Alle wollen nur billige Arbeitskräfte und niemand macht sich was draus, Kinder anzustellen. Im Winter halte ich mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser: ein bisschen Gartenarbeit hier, ein paar Bleiziegel auf dem Kirchendach auswechseln dort. Ich komm klar und mach alles. Abgesehen von Schornsteinfegen und unten in den Minen zu arbeiten. Denn das ist ein langsamer Tod.«
»Gutes Argument«, meinte Sherlock. »Wie lange bist du schon in Farnham?«
»Ein paar Wochen. Is ’n guter Platz«, sagte Matty. »Die Leute sind einigermaßen freundlich und lassen mich meistens in Ruhe. Is ’ne ganz ordentliche Stadt.« Er zögerte. »Außer …«
»Außer was?«
»Ach, nichts …« Er schüttelte den Kopf. Dann gab er sich einen Ruck. »Sieh mal, ich hab dich ’ne ganze Weile beobachtet. Du hast keine Freunde hier in der Gegend. Aber du bist nicht blöd und scheinst gut darin zu sein, Sachen rauszukriegen. Na ja, ich hab da etwas in der Stadt gesehen. Etwas, auf das ich mir einfach keinen Reim machen kann.« Er errötete leicht und schaute weg. »Ich hatte gehofft, dass du mir vielleicht helfen kannst.«
Sherlock war fasziniert, zuckte aber nur die Achseln. »Ich kann es versuchen. Was ist es?«
»Am besten ich zeig’s dir.« Matty klopfte sich die Hände an seiner Hose ab. »Möchtest du dich zuerst einmal in der Stadt umsehen? Ich kann dir zeigen, wo man am besten was zu essen und trinken kriegt oder einfach nur gut Leute beobachten kann. Und welche Straßen und Wege sich am besten zum Abhauen eignen und wo es gefährliche Sackgassen gibt, die du besser meiden solltest.«
»Zeigst du mir auch dein Boot?«
Matty schaute Sherlock an. »Vielleicht. Wenn ich sicher bin, dass ich dir trauen kann.«
Sie gingen zusammen den Hang zur Straße hinunter, die in die Stadt führte. Über ihnen spannte sich ein strahlend blauer Himmel. In der Luft lag der Geruch von Rauch, und Sherlock konnte hören, wie jemand in der Ferne mit der Regelmäßigkeit einer tickenden Uhr Holz hackte. Als sie gerade ein kleines Wäldchen durchquerten, zeigte Matty auf einen Vogel, der hoch über ihnen seine Kreise zog. »Ein Habicht«, erklärte er knapp. »Lauert auf Beute.«