In der Dunkelheit hinter dem Baron fing etwas zu surren an. Die Scheibe begann sich zu drehen und schickte funkelnde Lichtblitze in alle Richtungen. Sherlock konnte spüren, wie ihm Luft ins Gesicht strömte, als der Baron die Sägezahnscheibe näher und näher an sein rechtes Auge brachte.
Verzweiflung überkam ihn. Er war dem Baron nicht gewachsen. Gegen diesen Gegner würde er nicht mehr lange überleben.
Aber er musste Virginia retten.
Der Gedanke trieb ihn zu einer letzten Kraftanstrengung. Er wand sich, zog seinen Arm aus dem Jackenärmel und fiel in dem Moment auf die Bodenfliesen, als die Scheibe auf die Wand traf. Funken und Steinchen stoben in alle Richtungen, während sich die rotierende Scheibe kreischend in den Stein fräste und eine flache Furche hinterließ. Fluchend versuchte der Baron, den Säbel wieder zwischen den beiden Ziegelsteinen herauszuziehen.
Wenn Sherlock den Baron nicht mit seinen Fechtkünsten besiegen konnte, würde er ihn eben mit der Kraft seines Verstandes bezwingen müssen. Er musste nur eine verwundbare Stelle finden, etwas, das er ausnutzen konnte. Und es musste etwas mit der Art zu tun haben, in der Maupertuis sich bewegte. Oder besser gesagt: bewegt wurde.
Das war sein Schwachpunkt. Erneut versuchte Sherlock, mit dem Schwert die Seile und Schnüre zu durchtrennen, die Maupertuis aufrecht hielten. Aber der Baron hatte damit gerechnet und parierte Sherlocks Klinge mühelos mit der rotierenden Scheibe in seiner linken Hand, während sein rechter Arm die Klinge aus dem Mauerwerk zerrte.
Im Zurückweichen wäre Sherlock beinahe über die Überreste des Stuhles gestolpert, den das Schwert des Barons zertrümmert hatte. Durch das Klacken, das entstand, als Sherlock mit dem Fuß gegen die Holzstücke stieß, begann sich so etwas wie ein Plan in seinem Kopf abzuzeichnen. Ohne weitere Zeit zu verschwenden, das Ganze vollends zu durchdenken, bückte er sich und hob mit der linken Hand das größte Teil auf. Ein Stück, das aus einem Großteil einer Armlehne, einem Teil der Sitzfläche und einem eingekerbten Stuhlbein bestand. Als der Baron den Säbel auf Sherlocks ungeschützte Stirn niedersausen ließ, riss Sherlock in letzter Sekunde das Trümmerstück hoch, und die Klinge des Barons fraß sich tief in das Holz. Bevor Maupertuis es herausziehen konnte, schob Sherlock das Holzstück mit aller Kraft nach hinten, bis sich das Schwert des Barons über dessen Kopf befand. Mit der Rückseite der Hand kam Sherlock gegen eines der Seile, die Maupertuis stützten. Sherlock drehte mit aller Kraft am Holzstück, wobei Maupertuis das Schwert fast aus der Hand gewunden wurde, und klemmte es hinter ein paar anderen Seilen fest, bevor er das Holz zurückrotieren ließ. Zwischen den Seilen verfangen, hing das Holzstück und mit ihm das Schwert des Barons nun nutzlos in der Luft herum. Sherlock ließ los, griff erst eines und dann ein weiteres der verbliebenen Seile und Schnüre und verhedderte sie unter Aufbietung seiner letzten Kräfte mit dem Holzstück.
»Was tust du?«, schrie der Baron. Aber es war zu spät.
Die Seile hatten sich nun um Stuhllehne und -bein zu einem hoffnungslos festen Wirrwarr verschlungen. Hilflos baumelte Maupertuis in den Seilen. In der Dunkelheit am anderen Raumende boten die Diener all ihre Kräfte auf, doch vergebens. Die Seile ließen sich einfach nicht mehr von den Stuhlresten lösen.
Sherlock trat zurück. Er schwang das Schwert, hieb auf die Seile ein und durchtrennte fünf oder sechs davon. Von der enormen Zugspannung befreit, schossen sie mit lautem Sirren in verschiedene Winkel des Raumes davon. Die Arme des Barons fielen kraftlos herab, und sein Kopf neigte sich zur Seite.
»Dafür wirst du zahlen!«, zischte er.
»Schicken Sie mir die Rechnung«, erwiderte Sherlock gelassen. Er wandte sich zu Virginia um und wollte ihr zu Hilfe eilen. Aber stattdessen wurde er Zeuge, wie Virginia den scharfkantigen Eisenhelm der Ritterrüstung mit aller Wucht auf den Kopf von MrSurd krachen ließ. Ohnmächtig und blutüberströmt fiel der Narbenmann zu Boden.
»Gerade wollte ich dir zu Hilfe kommen«, sagte Sherlock.
»Komisch«, antwortete Virginia. »Ich dir auch.«
16
»Baron Maupertuis sei gepriesen«, seufzte Sherlock aus tiefstem Herzen,s als er die Tür zum Speiseraum hinter sich zuschlug. Da diese Tür kein Schloss hatte, warf er sein Gewicht gegen den Teakschrank, der daneben stand. Quietschend schrammten die Schrankbeine über die Fliesen, als sich das Möbelstück in Bewegung setzte.
»Ach, und warum bitteschön?«, blaffte Virginia und stemmte sich ebenfalls gegen den Schrank, um Sherlock zu helfen. Der Schrank glitt vor die Tür, die sich somit nicht mehr öffnen ließ. »Was soll der denn für uns getan haben?«
Auf der anderen Seite hatten Baron Maupertuis’ Diener offenbar die Tür erreicht, denn plötzlich öffnete sie sich einen Spalt weit und stieß gegen den Schrank. Sie rüttelten ein paar Mal dagegen, aber der Schrank rührte sich nicht von der Stelle.
»Er mag es, wenn es überall gleich aussieht, wo er lebt. Daher weiß ich auch, wo die Ställe sein müssten. Komm mit!« Er ging voraus und führte sie durch den hinteren Bereich des Hauses zu einer Außentür. Als er sicher war, dass sich keiner von Maupertuis’ Dienern draußen aufhielt, schlichen sich Virginia und er um eine Gebäudeseite des Châteaus und stießen dann tatsächlich auf die Ställe. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, musste es spät am Morgen sein. Wie es aussah, hatte man sie mindestens eine Nacht lang betäubt gehalten, wahrscheinlich sogar länger.
In ihrer stets pragmatischen Art begann Virginia augenblicklich damit, die Pferde zu satteln. »Was sollen wir jetzt machen, Sherlock? Schließlich sind wir in einem fremden Land! Und wir sprechen noch nicht einmal die Sprache!«
»Um ehrlich zu sein, tu ich es«, erwiderte Sherlock und wurde rot.
»Tust du was?«
»Die Sprache sprechen. Jedenfalls ein wenig.«
Sie drehte sich zu ihm um und warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Wie kommt’s?«
»Mütterlicherseits stammt meine Familie von einer französischen Linie ab. Mutter hat stets darauf bestanden, dass wir die Sprache lernen. Das ist unser Familienerbe, hat sie immer gesagt.«
Virginia streckte die Hand nach ihm aus, um seinen Arm zu berühren. »Du sprichst nicht viel von ihr«, sagte sie. »Du sprichst von deinem Vater und deinem Bruder, aber nicht von ihr.«
»Nein«, sagte er und spürte einen Kloß im Hals. Er wandte sich ab, damit sie ihm nicht in die Augen blicken konnte. »Tu ich nicht.«
Virginia zog nachdenklich den letzten Sattelgurt straff und beschloss, lieber das Thema zu wechseln. »Also, mal vorausgesetzt, wir sprechen die Sprache, wohin gehen wir dann? Sollen wir um Hilfe bitten?«
»Wir reiten zur Küste«, antwortete Sherlock. »Maupertuis hat Befehl gegeben, die Bienen freizulassen. Wenn wir sie nicht aufhalten, werden die Biester Menschen umbringen. Vielleicht nicht so viele wie Maupertuis denkt, aber einige britische Soldaten werden trotzdem sterben. Wir müssen verhindern, dass man sie freilässt.«
»Aber …«
»Eins nach dem anderen«, unterbrach Sherlock sie. »Lass uns erst zur Küste. Von da aus können wir meinem Bruder ein Telegramm schicken, oder was auch immer. Ich lass mir schon was einfallen.«
Virginia nickte. »Dann mal in den Sattel, großer Fechtmeister.«
Er grinste. »Du warst auch ziemlich großartig da drinnen.«
»Ja, nicht wahr«, sagte sie und erwiderte das Grinsen.
Sie bestiegen die Pferde und ritten gerade vom Château davon, als hinter ihnen Rufe ertönten und eine Alarmglocke zu läuten begann. Aber Sherlock wusste, dass sie eigentlich schon zu weit entfernt waren, um noch eingeholt zu werden.
Im nächsten Dorf machten sie Rast, um sich zu erkundigen, wo sie waren. Sie waren beide hungrig, hatten aber kein französisches Geld. Und somit blieb ihnen nichts anderes übrig, als sehnsüchtig auf die in den Ladenschaufenstern hängenden Würste und die in Körben drapierten Brotstangen zu starren, die so lang wie Sherlocks Arme waren. Ein Bauer erzählte Sherlock, dass sie nur fünf Meilen von Cherbourg entfernt waren. Er wies ihnen den Weg zur richtigen Straße, und dann ging es im Galopp weiter.