Sie waren schon eine Weile geritten, als Virginia einen anerkennenden Blick zu ihm hinüberwarf. »Nicht schlecht«, lobte sie. »Du sitzt auf dem Tier, als wär’s ein Einrad und keine lebende Kreatur, aber trotzdem … nicht schlecht.«
Am Rande eines Birnbaumhaines hielten sie eine halbe Stunde später erneut an, um sich die Taschen voller Birnen zu stopfen. Dann setzten sie ihren Weg fort, während sie sich im Sattel die Früchte schmecken ließen und ihnen der Saft am Kinn hinunterlief. Die vorbeiziehende Landschaft war ihnen einerseits vertraut und unterschied sich andererseits doch sehr von dem, was Sherlock von England her gewohnt war. Das Pochen in seinem Kopf war fast so laut wie die auf den Boden hämmernden Pferdehufe. Was sollten sie nur tun, wenn sie Cherbourg erreicht hatten? Er musste sich unbedingt etwas einfallen lassen. Und zwar schnell.
Doch als sie Cherbourg erreichten, hatte er immer noch keine Idee.
Die Stadt lag an einem Hang, der zum Hafen und dem glitzernden Blau des Meeres hin abfiel. Als die Pferdehufe wenig später über Kopfsteinpflaster klapperten, zügelten sie die Pferde zu einem langsamen Trott, um sich einen Weg durch die dichten Menschenmengen zu bahnen, die in den gewundenen Straßen und Gassen Stände und Läden umlagerten.
Die Szenerie, die sich ihnen bot, hätte sich ebenso gut in jeder beliebigen Stadt in Südengland abspielen können, wenn man einmal von der Kleidung und dem Überangebot an allen möglichen Käsesorten an den Ständen absah.
Sie stiegen ab und banden die Pferde an einem Zaun fest. Sie ließen die Tiere nur ungern zurück, aber irgendjemand würde sich schon um sie kümmern. Sherlocks Sprachkenntnisse wurden aufs Äußerste getestet, als er sich erkundigte, ob sich ein Telegraphenamt in der Nähe befinde. Doch die Auskunft, die er bekam, war absolut niederschmetternd: Das nächste Telegraphenamt befand sich in Paris. Wie sollten sie Mycroft nun eine Nachricht schicken?
Also mussten sie sehen, dass sie so schnell wie möglich ein Schiff zurück nach England bekamen. Das war ihre einzige Hoffnung.
Sie machten das Büro des Hafenmeisters ausfindig und erkundigten sich nach Schiffen oder Booten, die nach England auslaufen würden. Laut Auskunft des Hafenmeisters gab es einige, und umständlich ging er mit ihnen die Namen durch. Bei vieren handelte es sich um kleinere Schiffe aus der Region, die Nahrungsgüter wie Käse, Fleisch und Zwiebeln zwischen England und Frankreich transportierten. Der Hafenmeister bot ihnen an, ein gutes Wort für sie bei den Kapitänen einzulegen. Das fünfte war ein britischer Fischkutter, der an diesem Morgen unerwarteterweise im Hafen festgemacht hatte.
Der Name des Kutters war MrsEglantine.
Den Namen zu hören, war, als würde man Sherlock einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht schütten. Ihm lief es eiskalt den Rücken hinunter, und einen Moment lang war er fest davon überzeugt, dass MrsEglantine – die Hauswirtschafterin seines Onkels und seiner Tante – die eigentliche Drahtzieherin hinter all dem Ganzen war. Doch dann gewann sein Verstand wieder die Oberhand.
Irgendjemand musste diesen Namen sozusagen als Signalflagge benutzt haben, um Sherlocks Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und das hatte der- oder diejenige auch geschafft.
Die MrsEglantine hatte an einem Pier am Hafenrand angelegt. Es war ein kleinerer Kutter mit rundherum an den Außenbordwänden aufgehängten Fischernetzen, die von weitem wie Spinnennetze aussahen. Neben dem Landungssteg warteten Amyus Crowe und Matthew Arnatt auf sie.
Virginia lief ihrem Vater in die Arme. Er schwang sie hoch in die Luft und drückte sie dann fest an sich, während Sherlock Matty überglücklich auf die Schulter klopfte.
»Wie habt ihr gewusst, wo ihr uns findet?«, fragte er. »Und vor allem, in welchem Land ihr überhaupt suchen müsst?«
»Du scheinst zu vergessen, dass ich Fährtensucher von Beruf bin«, sagte Crowe. »Als du nicht ins Hotel zurückgekommen bist und als wir merkten, dass Ginny verschwunden war, haben wir versucht, eure Spuren zurückzuverfolgen. Ich hab Berichte über das Feuer im Rotherhithe-Tunnel gehört, und als ich ein bisschen herumgefragt habe, stellte sich heraus, dass ein Junge in deinem Alter gesehen worden war, wie er davonrannte. Mittlerweile hatte Matty den Droschkenkutscher aufgespürt, der Ginny zum Hafen gebracht hatte. Als wir dort angekommen sind, war Maupertuis’ Schiff schon in See gestochen. Aber wir haben einen Lademeister aufgestöbert, der sich daran erinnern konnte, euch an Bord gesehen zu haben. Oder besser gesagt, wie ihr an Bord geschleppt wurdet, wie er sich genau ausdrückte. Das Schiff war wie gesagt schon in See gestochen, doch er erinnerte sich daran, gehört zu haben, wie die Matrosen davon sprachen, dass es diesmal ja nur ein kurzer Trip über den Englischen Kanal nach Cherbourg werden würde. Also mieteten wir uns einen Fischkutter und fuhren hinterher, um nach euch zu suchen. Wir trafen unmittelbar nach Maupertuis’ Schiff hier ein. Entweder waren sie sehr langsam, oder sie haben unterwegs noch irgendwo haltgemacht, da bin ich mir nicht sicher.« Seine Stimme klang fest und bedächtig wie immer, und seine Worte verrieten nichts darüber, wie es in ihm aussah.
Aber Sherlock hatte den Eindruck, dass er irgendwie älter und müder wirkte. Er hatte den Arm immer noch um Virginias Schultern geschlungen und hielt sie fest an sich gedrückt, während Virginia keine Anstalten machte, sich aus der Umarmung zu lösen.
»Ich habe herausgefunden, dass der Baron hier in der Nähe ein Anwesen besitzt und war gerade dabei, eine Gruppe aus Einheimischen zu rekrutieren, als ihr aufgetaucht seid. Ein glückliches und nützliches Zusammentreffen unserer Wege, würde ich sagen.«
»Da haben Sie recht und jetzt wird mir einiges klar«, erwiderte Sherlock. »Wir haben uns zu dem Hafen begeben, der Maupertuis’ Château am nächsten liegt. Denn dort würde ja mit großer Wahrscheinlichkeit sein Schiff festmachen, und ihr wiederum seid seinem Schiff gefolgt. Die Chance, dass es uns irgendwann alle nach Cherbourg verschlägt, war also groß.« Er lächelte. »Das einzig Erstaunliche daran ist, dass ihr ein Schiff aufgetrieben habt, das nach der Hauswirtschafterin meines Onkels benannt wurde.«
»Ihr eigentlicher Name war Rosie Lee«, antwortete Crowe und musste nun seinerseits lächeln. »Ich dachte mir, ein etwas vertrauterer Name könnte deine Aufmerksamkeit erregen, solltest du in der Gegend sein und dich nach einer Rückkehrmöglichkeit nach England umsehen. Ich wollte sie eigentlich erst in Mycroft Holmes umtaufen, aber der Kapitän machte mir unmissverständlich klar, dass Schiffe und Boote nur weibliche Namen tragen.«
»Sie haben damit gerechnet, dass wir dem Baron entkommen?«
Crowe nickte. »Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn ihr es nicht geschafft hättet. Schließlich bist du mein Schüler und Ginny mein Fleisch und Blut. Was wäre ich bloß für ein Lehrer, wenn ihr beide einfach dagesessen und nichts gegen eure Gefangenschaft unternommen hättet.« Seine Worte waren scherzhaft gemeint, und auf seinem Gesicht lag ein Lächeln. Dennoch meinte Sherlock in Crowe ein tiefes, unterschwelliges Gefühl des Unbehagens, ja vielleicht sogar der Angst zu verspüren, das sich durch ihr Auftauchen gerade erst zu verflüchtigen begonnen hatte.
Crowe streckte seine große Hand aus und drückte Sherlocks Schulter. »Du hast auf sie aufgepasst«, sagte er leise. »Dafür danke ich dir.«
»Ich weiß, dass alles, was Sie unternommen haben, um hierherzukommen, aus logischen Erwägungen erfolgte«, antwortete Sherlock ebenso leise, »und es hat alles funktioniert. Aber was, wenn es das nicht hätte? Was, wenn wir gar nicht entkommen wären oder einen anderen Weg eingeschlagen hätten oder wenn Sie sich an einem Hafenende befunden hätten, während wir am entgegengesetzten Ende ein anderes Schiff bestiegen hätten? Was dann?«