»Dann wären die Dinge anders gelaufen«, sagte Crowe. »Wir stehen hier zusammen, weil die Dinge so geschehen sind, wie sie es nun einmal sind. Mit Logik kannst du die Chancen zu deinen Gunsten verbessern, aber man muss immer auch mit dem Zufall rechnen. Dieses Mal hatten wir Glück. Das nächste Mal … Wer weiß?«
»Ich rechne nicht damit, dass es ein ›nächstes Mal‹ geben wird«, erwiderte Sherlock. »Aber wir müssen trotzdem die Pläne des Barons durchkreuzen.«
»Ach, und wie sehen die aus?«, fragte Crowe und verzog verwundert das Gesicht. »Einen Teil des Puzzles habe ich schon zusammengesetzt, aber nicht alles.«
Rasch berichteten Sherlock und Virginia von den Bienen, den vergifteten Uniformen und dem teuflischen Plan, einen beträchtlichen Teil der britischen Armee in ihren Garnisonen in England zu töten. Crowe war hinsichtlich der Effizienz des Planes ebenso skeptisch wie Sherlock, doch er stimmte darin überein, dass es zumindest einige Todesfälle geben würde und selbst ein einzelner Tod schon zu viel wäre. Die Bienen mussten aufgehalten werden.
»Aber wie finden die Bienen den Weg übers Meer nach England und dann weiter zu den Garnisonen?«, fragte Crowe.
»Ich habe in der Bibliothek meines Onkels einiges über Bienen gelesen«, antwortete Sherlock. »Bienen sind ganz erstaunliche Kreaturen. Sie können zwischen Hunderten verschiedener Düfte unterscheiden. Düfte von weitaus geringerer Konzentration, als sie ein Mensch wahrnehmen könnte. Auf der Suche nach diesen Düften können sie meilenweit fliegen. Ich wäre nicht überrascht, wenn es klappen würde.« Er hielt kurz inne, als ihm plötzlich etwas einfiel. »Er hat von einem Fort gesprochen. Als er seinem Gehilfen – diesem MrSurd – befohlen hat, die Bienen freizulassen. Das sollte von einem Fort aus passieren. Gibt es irgendwelche Befestigungen an dieser oder an der englischen Küste, die sie benutzen könnten?«
»Ist vielleicht nicht gerade die Art von Fort, an die du denkst«, meldete sich plötzlich Matty zu Wort.
»Was meinst du damit?«
»Rund um Southampton, Portsmouth und der Isle of Wight gibt’s Forts. Mitten im Englischen Kanal. Sind so was wie künstliche Inseln«, sagte er. »Sind für den Fall gebaut worden, dass Napoleon mal ’ne Invasion in England macht. Die meisten sind jetzt verlassen, weil die Invasion nie gekommen ist.«
»Woher weißt du das?«, fragte Virginia.
Mattys Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. »Mein Dad war in einem stationiert. Als er in der Navy war. Hat mir alles davon erzählt.«
»Und wie kommst du darauf, dass Maupertuis eins davon benutzt?«, fragte Sherlock.
»Du hast erzählt, wie sehr er die Briten hasst. Für das, was mit ihm passiert ist. Macht doch irgendwie Sinn, wenn er dann eins von den Forts, die wir damals gebaut haben, um uns vor den Franzosen zu verteidigen, nun gegen uns benutzt, oder?«
Crowe nickte. »Da hat der Junge nicht ganz Unrecht. Außerdem hat sein Schiff London ja schon eine ganze Weile verlassen, bevor Matty und ich uns ein Boot besorgen konnten. Und trotzdem haben sie Cherbourg nur kurz vor uns erreicht. Sie müssen an einem der Forts Halt gemacht haben, um die Bienenstöcke abzuladen.«
»Aber es gibt jede Menge davon«, sagte Matty. »Wir haben keine Zeit, alle zu durchsuchen.«
»Er würde nicht wollen, dass die Bienen zu weit fliegen müssen«, meinte Sherlock. »Wir suchen nach einem Fort, das ziemlich nah an der Küste liegt. Und er würde Wert darauf legen, dass sich die Bienen schon in relativer Nähe zu einer ziemlich großen Garnison befinden. Wir brauchen eine Karte von England und der englischen Küste. Dann ziehen wir Linien zwischen jedem Fort auf See und jeder Garnison. Das, was wir suchen, ist die kürzeste Linie.« Er blickte zwischen Amyus Crowes und Virginias verwunderten Gesichtern hin und her. »Einfache Geometrie«, erklärte er.
»Und was machen wir, wenn wir das richtige Fort gefunden haben?«, fragte Matty.
»Wir könnten weiter zur britischen Küste segeln und Mycroft Holmes eine Nachricht schicken«, knurrte Crowe. »Er könnte ein Schiff der Royal Navy zum Fort entsenden.«
»Das würde viel zu viel Zeit kosten«, sagte Sherlock und schüttelte den Kopf. »Wir müssen selbst hin. Jetzt gleich.«
Und so geschah es. Wenige Zeit später stach die MrsEglantine – ehemals und bald wieder die Rosie Lee – in See, während Crowe und Sherlock sich sogleich daranmachten, auf diversen Karten Linien einzuzeichnen. Schließlich war der wahrscheinlichste Kandidat identifiziert, und als wenige Stunden später die Sonne den Horizont berührte und sich die englische Küste als schwarze Linie vor einem dämmrigen Hintergrund abzeichnete, näherten sie sich ihrem Ziel.
»Sie werden den Kutter auf der Stelle entdecken«, gab Crowe zu bedenken. »Selbst wenn wir die Segel bergen, sind Mast und Takelage noch relativ weit zu sehen. Vorausgesetzt natürlich, dass sie Ausschau halten – was ich an ihrer Stelle tun würde.«
»Als wir eben an Bord gegangen sind, habe ich gesehen, dass ein Ruderboot an der Bordseite festgezurrt ist«, sagte Sherlock. »Matty und ich könnten damit zum Fort rüberrudern. Und ihr segelt weiter nach England und schlagt Alarm.«
»Wie wär’s, wenn ich zum Fort rudere und ihr beide mit Ginny nach England segelt?«
»Aber wir können nicht segeln«, stellte Sherlock klar, und sein Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken daran, für welches Unternehmen er sich gerade freiwillig meldete. Aber er konnte beim besten Willen keine sinnvolle Alternative erkennen. »Und außerdem werden die Admiralität und das Kriegsministerium Ihnen mehr Glauben schenken als mir.«
»Klingt logisch«, räumte Crowe widerstrebend ein.
»Egal, wo Sie an Land gehen, ob Portsmouth Dockyard, Chatham Dockyard, Deal, Sheerness, Great Yarmouth oder Plymouth, überall gibt es Semaphor-Stationen. Wenn Sie dort eine Nachricht aufgeben, wird sie per Lichtsignal über die Semaphor-Kette bis zur Admiralität übertragen. Das geht vermutlich schneller, als ein Telegramm zu schicken.«
Crowe nickte und lächelte. Dann streckte er seine riesige Pranke aus und schüttelte Sherlock die Hand. »Wir sehen uns wieder«, sagte er.
»Darauf zähle ich«, erwiderte Sherlock.
Mit Hilfe von Crowe ließen Sherlock und Matty das Ruderboot zu Wasser und glitten vorsichtig ins Boot hinab. Dann legten sie sich in die Ruder und hielten zügig auf das Fort zu. Ein kleines Ruderboot konnte sich im rasch schwindenden Licht der Abenddämmerung dem Fort nähern, ohne gesehen zu werden, wohingegen ein Fischkutter, so unauffällig er auch sein mochte, auf jeden Fall entdeckt werden würde. Wie vereinbart, hielten Crowe und Virginia weiter auf die englische Küste zu, von wo aus sie eine Nachricht an die Regierung schicken würden.
Virginia stand an der Bordseite der MrsEglantine, als Kutter und Ruderboot sich voneinander entfernten, und starrte Sherlock nach. Sherlock erwiderte ihren Blick und fragte sich, ob er sie jemals wiedersehen würde.
Mit aller Kraft pullten sich Sherlock und Matty durch die grau-grüne und kabbelige See voran. Doch so sehr sie auch ruderten, das Fort blieb zunächst ein dunkler Klecks am Horizont, der keinen Zentimeter näherzukommen schien. Nachdenklich fuhr sich Sherlock mit der Zunge über die Lippen, die nach Meersalz schmeckten. Er fragte sich, wie er es nur hatte fertigbringen können, sich in dieses merkwürdige Abenteuer zu verstricken.
Als er nach einer Weile aufblickte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass das Fort nur noch ein paar Hundert Meter entfernt war. Von Seetang und Algen überzogen, erhob sich der massige feuchte Steinklotz aus den Wogen des Englischen Kanals. Irgendwie hatten sie sich dem Koloss genähert, ohne es richtig wahrzunehmen. Das Fort schien einsam und verlassen dazuliegen. Sherlock musterte die mit Zinnen bewehrte Mauerkrone, von der aus noch vor ein paar Jahrzehnten britische Truppen das Meer nach feindlichen französischen Kriegsschiffen abgesucht hatten. Doch es war niemand zu sehen. Keine Menschenseele.