Die Gedanken an Farnham und den Bahnhof weckten eine weitere Erinnerung: Es hatte mit irgendetwas zu tun, das Matty ihm mal erzählt hatte. Etwas über Pulver. Über Bäckereien. Er wühlte verzweifelt in seinem Gedächtnis, um auf den richtigen Begriff zu kommen.
Ja, das war’s. PULVER! MEHL! Matty hatte ein Feuer erwähnt, das in einer Bäckerei ausgebrochen war, in der er mal gearbeitet hatte. Er hatte gesagt, dass ein Pulver, wie zum Beispiel Mehl, hoch explosiv war, wenn viele Teilchen davon in der Luft herumschwebten. Fing ein Mehlkörnchen Feuer, würde sich dieses von Mehlkörnchen zu Mehlkörnchen schneller ausbreiten, als ein Mensch davor wegrennen konnte. Und wenn das bei Mehl funktionierte, könnte es auch mit Pollen klappen.
»Ein Penny für deine Gedanken«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Schon bevor Sherlock sich umdrehte, war ihm klar, wen er sehen würde.
Vor ihm stand, noch halb verborgen im Schatten, MrSurd, der treue Diener von Baron Maupertuis. Der Lederriemen seiner Peitsche baumelte locker von seiner Hand herab, und das Ende hatte sich um seine Füße geringelt.
»Schon gut«, sagte Surd und kam auf Sherlock zu. »Wenn der Baron wissen will, was in deinem Kopf ist, werd ich ihm den einfach geben, damit er selbst darin herumwühlen und es rausfinden kann.«
17
Sherlock wich zur Seite, und MrSurd folgte der Bewegung. Die Metallspitze der Peitsche schrammte über den Boden, als er sich auf Sherlock zubewegte.
Surds Gesicht war eine Maske höflicher Gleichgültigkeit, aber die Narben, die sich kreuz und quer über seine Kopfhaut zogen, glühten rot vor Wut.
»Hat der Baron Ihnen die Hölle heiß gemacht?«, spottete Sherlock. »Dass Sie uns einfach so haben entkommen lassen, wird Ihrem Ruf nicht gerade gut bekommen sein. Ich wette mal, dass der Baron nutzlose Diener ausrangiert, wie andere ein abgebranntes Streichholz wegwerfen.«
Surds Gesicht blieb ausdruckslos. Stattdessen vollführte seine Hand eine kurze ruckartige Bewegung und die Peitschenzunge kam auf Sherlock zugeschnellt. Nur einen Sekundenbruchteil, bevor die Metallspitze ihm das Ohr abgetrennt hätte, warf er den Kopf zur Seite.
»Das ist ein wirklich netter Zirkustrick. Aber natürlich gibt’s in der Hinsicht jede Menge bessere«, fuhr Sherlock fort und gab sein Bestes, damit seine Stimme nicht zitterte und seine Angst verriet.
»Vielleicht könnte Maupertuis das nächste Mal ja einen Messerwerfer anheuern.«
Wieder schnellte die Peitsche auf ihn zu. Mit einem Knall, der ihn für kurze Zeit taub machte, sauste die Spitze an seinem linken Ohr vorbei. Zunächst dachte er, sie hätte wieder ihr Ziel verfehlt. Aber die warmen Blutspritzer, die er plötzlich auf seinem Hals verspürte, und der zunehmende beißende Schmerz an der Kopfseite ließen darauf schließen, dass die Metallspitze ihn getroffen hatte.
Obwohl der Schmerz nicht ganz so schlimm war – jedenfalls noch nicht –, bewegte er sich taumelnd zur Seite und hielt sich die Hand ans Ohr. Sherlock wollte, dass sie ihre Positionen wechselten, und er war noch nicht ganz da, wo er hinwollte.
»Jede höhnische Bemerkung von dir ist gleichbedeutend mit einem weiteren Streifen Fleisch, den ich dir vom Gesicht schäle«, erklärte Surd gelassen. »Du wirst darum betteln, dass ich dich umbringe. Und ich werde nur lachen. Einfach nur lachen.«
»Lachen Sie ruhig, solange Sie noch können«, erwiderte Sherlock. »Vielleicht kann ich den Baron überreden, mich an Ihrer Stelle einzustellen. Zumindest habe ich bewiesen, dass ich kompetenter bin als Sie.«
»Ich werde dich gerade so lange am Leben lassen, dass das Mädchen noch mitbekommt, was ich mit dir gemacht habe«, fuhr Surd fort, als hätte Sherlock nichts gesagt. »Sie wird es nicht ertragen, dich anzusehen. Sie wird schreien bei deinem Anblick. Wie wird dir das gefallen, Junge? Wie wird dir das gefallen?«
»Sie sind nicht auf den Mund gefallen«, kommentierte Sherlock ironisch. Er machte einen weiteren Schritt zur Seite, und Surd folgte seiner Bewegung.
Die Holzkisten mit den Bienenpollentabletts befanden sich jetzt genau hinter ihm. Er griff mit seiner rechten Hand nach hinten. Tastend glitten seine Finger zunächst über ein Tablett, bis sie sich irgendwo fest um dessen Kante schlossen. Er spürte die Kälte, die vom darunterliegenden Eis ausging.
»Was machst du da, Junge?«, fragte Surd. »Glaubst du, da ist irgendetwas drin, das dich retten könnte? Da liegst du falsch. Ganz falsch.«
»Das Einzige, was mich retten kann, ist mein Verstand«, antwortete Sherlock und zog das Tablett hinter seinem Rücken hervor. Gelber und pulvriger Pollenstaub stieg auf und brachte ihn zum Husten.
Surd holte wieder mit der Peitsche aus und zielte dabei diesmal auf Sherlocks rechtes Auge. Aber Sherlock hielt das Tablett wie einen Schild in die Höhe, so dass sich die Peitsche darum wickelte und die Metallspitze sich ins Holz bohrte und steckenblieb. Mit aller Kraft zog Sherlock am Tablett, wodurch dem überraschten MrSurd der Peitschengriff aus der Hand gerissen wurde und zur Seite wegflog.
Surd brüllte auf wie ein wütender Stier und stürzte mit ausgebreiteten Armen auf Sherlock zu. Sherlock griff sich ein weiteres Tablett aus der Kiste und ließ es auf Surds Kopf niederkrachen. Völlig in gelbes Pulver eingehüllt, taumelte der Narbenmann stark hustend zurück. Sollte Surd das hier überleben, würde er von nun an sogar noch mehr Narben auf dem Kopf haben.
Allerdings würde Sherlock dann auch nicht mehr am Leben sein.
Sherlock trat nach vorne. Er packte Surd an den Ohren, zerrte dessen Kopf nach unten und riss sein Knie hoch. Mit einem knirschenden Knacken, das nicht viel leiser war als der Knall von Surds Peitsche, brach dessen Nase. Er stolperte nach hinten, und von Mund und Kinn tropften Rotz und Blut.
Ehe Surd noch einmal angreifen konnte, nahm Sherlock in Windeseile die Peitsche vom Boden auf, zerrte die Metallspitze aus dem Holztablett und entwirrte den ledernen Peitschenriemen.
Als Surd wie ein wütender Berserker aus einer Pollenwolke hervorstürmte, um sich auf ihn zu stürzen, schlug Sherlock mit der Peitsche auf ihn ein. Er hatte noch nie zuvor eine Peitsche benutzt, aber Surd nun schon einige Male dabei beobachten dürfen. Er wusste, was er zu tun hatte, und im nächsten Augenblick schnellte der Peitschenriemen auch schon auf den riesigen Schlägertypen zu. Mühelos fräste sich die Metallspitze durch Surds Wange, und er selbst wurde von der Wucht des Treffers nach hinten geschleudert.
Geradewegs in einen der Bienenstöcke.
Das Gestell fiel um und Surd stürzte genau darauf. Krachend zerbarsten die Holzlatten, als sie fast zeitgleich mit Surd auf den Steinboden aufschlugen. Surd lag in den Trümmern und war über und über mit dem klebrigen und wachsigen Inhalt des Bienenstocks bedeckt.
Und mit Bienen. Tausenden von Bienen.
Sie bedeckten sein Gesicht und seinen Kopf wie eine lebende Kapuzenmütze, krochen in Nase, Mund und Ohren und stachen überall, wo sie hingelangten. Er schrie. Ein leiser, pfeifender Ton, der lauter und lauter wurde. Er wälzte sich wie wahnsinnig auf dem Boden herum, um die Tiere zu zerquetschen. Aber der einzige sichtbare Erfolg bestand darin, dass er noch einen weiteren Bienenstock umstieß.