Innerhalb weniger Sekunden war MrSurd unter einer Decke von Insekten verschwunden, die auf jeden Quadratzentimeter Fleisch einstachen, den sie finden konnten. Seine Schreie wurden von den Bienen gedämpft, die mittlerweile sogar seinen Mund füllten.
Entsetzt wich Sherlock zurück. Noch nie zuvor hatte er etwas so Schreckliches gesehen. Er hatte um sein Leben gekämpft, aber was mit MrSurd passierte, war so schrecklich, dass ihm übel wurde. Er hatte einen Mann getötet.
»Kann man dich nicht mal einen Moment lang allein lassen?«, hörte er plötzlich Matty hinter sich.
»Denkst du etwa, ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mich dauernd in Kämpfe verwickeln zu lassen?«, sagte Sherlock, dem bewusst wurde, dass seine Stimme zitterte und er kurz vor einem hysterischen Anfall war. »Aber irgendwie gerate ich einfach immer hinein.«
»Na ja, jedenfalls scheinst du deine Sache ja ganz gut zu machen«, sagte Matty.
»Ich weiß jetzt, was wir tun müssen«, erwiderte Sherlock und versuchte, seine Stimme wieder unter Kontrolle zu bringen. Er zeigte auf die gelben Pollenwolken, die sich nun langsam in der riesigen Kammer aufzulösen begannen.
»In diesen Kisten da sind Pollentabletts aufeinandergestapelt. Wir müssen die Pollen überall hier im Raum verstreuen.«
»Warum?«, fragte Matty.
»Erinnerst du dich daran, was du mir in Farnham über die Bäckerei erzählt hast?«, erwiderte Sherlock.
Mattys Augen leuchteten auf. Er hatte verstanden. »Alles klar«, sagte er grinsend. Doch gleich darauf verfinsterte sich sein Gesicht wieder. »Aber was ist mit uns?«
»Wir müssen das Ganze stoppen. Und zwar jetzt. Im Vergleich mit Hunderten, vielleicht Tausenden von Menschen, die sonst sterben könnten. Wenn wir’s nicht tun, sind wir nicht so bedeutend.«
»Mir gleich, ich …«, begann Matty und grinste, als er Sherlocks geschockten Gesichtsausdruck sah. »Nur ein kleiner Scherz. Lass uns loslegen.«
Zusammen nahmen sie so viele Tabletts mit kaltem gelbem Pollen aus den Eiskisten, wie sie nur tragen konnten. Dann rannten sie durch die Reihen zwischen den Bienenstöcken und verstreuten hinter sich Pollen in dichten, rasch anwachsenden Wolken. Innerhalb von zehn Minuten schwebten so viele Staubpartikel in der Luft herum, dass sie kaum drei Meter weit sehen und nur mit Mühe Luft holen konnten, ohne zu husten. Sherlock berührte Matty an der Schulter.
»Lass uns gehen«, sagte er.
Blind vor lauter Pollenwolken kämpften sie sich tastend durch den gelben Staubnebel zum Gang zurück, der zur Treppe führte. Sorgfältig achteten sie darauf, keinen Bienenstock umzustoßen. Doch trotz aller Vorsicht stieß Sherlock plötzlich mit dem Fuß gegen etwas Weiches und fast wäre er gestolpert. Als er herabblickte, starrte er auf eine geschwollene Masse rot gefleckten Fleisches, in der er nur mit Mühe das Gesicht von MrSurd wiedererkannte.
Surds Augen waren komplett unter geschwollenen Hautfalten verschwunden, und sein weit aufgerissener Mund quoll fast über vor toten Bienen.
Trotz allem, was Surd getan hatte, verspürte Sherlock das mächtige Verlangen, dem Sterbenden zu helfen. Aber es war zu spät. Fröstelnd und mit einem elenden Gefühl im Bauch ging er weiter.
Dann stand er vor der Außenwand. Rechts oder links? Das war die Frage. Er entschied sich für links und stellte sicher, dass Matty ihm folgte, indem er ihn am Hemd packte und mit sich zog.
Obwohl es ihnen wie Stunden vorkam, war vermutlich nicht mehr als eine Minute vergangen, bevor sie auf den Gang stießen. Sherlock drehte sich um und blickte zurück. Außer einer wallenden gelben Pulverwand, die in der Luft hing, war nichts zu sehen.
Er streckte die Hand aus und nahm eine Öllaterne aus der Wandhalterung. Er wog sie in der Hand und dachte über die Bienen nach: Sie traf keine Schuld, außer dass sie nun mal waren, wie sie waren.
Aber er hatte keine andere Wahl.
Er warf die Laterne in den Raum hinein. In hohem Bogen flog sie in die Pollenwolke und verschwand. Kurz darauf vernahm er das Geräusch zersplitternden Glases, als die Lampe auf die Steinplatten prallte. Gefolgt von einem gewaltigen Wump, als die Pollen Feuer fingen.
Dann hatte Sherlock das Gefühl, als würde sich eine unsichtbare Faust in seine Brust rammen, und er flog rückwärts in den Gang zurück. Direkt vor ihm schien die Luft in Flammen aufgegangen zu sein und er spürte, wie seine Haare und Wimpern versengten. Er schlug hart auf, rollte kurz über den Boden und wurde von Matty gestoppt, als dieser direkt auf ihm landete.
Durch den Gang hinter sich blickten sie nun in einen gigantischen Flammenschlund.
Sherlock bedeckte den Mund mit der Hand und führte Matty die Stufen zur obersten Ebene des Forts empor. Er spürte, wie ihnen Luft entgegenströmte. Zweifellos würde sie das Feuer unter ihnen noch zusätzlich schüren.
Dann hatten sie endlich die Oberfläche erreicht. Wachen liefen dort panisch und laut schreiend hin und her. Der Himmel war dunkel, und nur eine zarte rote Linie am Horizont verriet noch, wo die Sonne untergegangen war. In ihrer Panik beachteten die Wachen sie zum Glück nicht, und die beiden Jungen rannten einfach an ihnen vorbei. In Windeseile hasteten sie die Stufen zum Wasser hinunter und stiegen in das Boot.
Als sie davonruderten, drehte sich Sherlock noch einmal um und blickte zurück. Mittlerweile stand das gesamte Fort in Flammen und Maupertuis’ Männer sprangen in ihrer Verzweiflung von dem obersten Deck ins Meer hinab. Einige von ihnen brannten. Wie leuchtende Sternschnuppen stürzten sie durch die Dunkelheit in die See.
Es war ein Anblick, den Sherlock niemals vergessen würde.
Die Fahrt zur britischen Küste verschwamm in seiner Wahrnehmung zu einem diffusen Nebel aus schmerzenden Armen, quälend brennender versengter Haut und schierer Erschöpfung. Noch viel später fragte Sherlock sich, wie Matty und er es überhaupt hatten schaffen können, ohne zu kentern oder sich zu verirren und aufs offene Meer hinauszutreiben.
Irgendwie hatte Amyus Crowe herausgefunden, wo sie landen würden. Vielleicht hatte er es anhand von Windrichtung und Tidenströmung vorausberechnet, aber vielleicht hatte er auch nur gut geraten. Sherlock hatte keine Ahnung, und es war ihm auch egal. Er wollte einfach nur in eine warme Decke gehüllt und in ein weiches Bett gepackt werden. Und zum ersten Mal seit langer Zeit sollte das, was er wollte, auch tatsächlich in Erfüllung gehen.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, hörte er Möwen vor dem Fenster kreischen, und die von der Meeresoberfläche reflektierten Sonnenstrahlen zauberten wellenförmige Muster an die Zimmerdecke.
Er war am Verhungern. Er warf die Bettdecke von sich und sah sich um. Über einer Stuhllehne hingen ein paar Kleidungsstücke für ihn bereit, die ihm nicht gehörten, doch genau die richtige Größe zu haben schienen. Rasch zog er sich an und ging dann auf einer Treppe hinunter, von der er gar nicht mehr wusste, wie er sie hochgekommen war. Die Treppe führte in die Gaststube einer Taverne, die scheinbar Zimmer an Reisende vermietete. Und an Abenteurer.
Die Vorderseite des Gasthauses führte auf eine schmale offene Fläche hinaus, die nach einigen Metern jäh zum Meer hin abfiel. Im grellen Sonnenlicht musste Sherlock die Augen zunächst zusammenkneifen. Dann erblickte er Matty. Sein Freund saß draußen an einem Tisch und vertilgte gerade ein riesiges Frühstück. Neben ihm saß Amyus Crowe und paffte eine Pfeife.
»Morgen«, sagte Crowe in freundlichem Ton. »Hunger?«
»Ich könnte ein Pferd fressen.«
»Lass Ginny das lieber nicht hören.« Crowe wies auf einen Platz am Tisch. »Setz dich. Das Essen wird gleich soweit sein.«
Sherlock setzte sich. Seine Muskeln schmerzten, in den Ohren läutete es immer noch von der Explosion, und seine trockenen Augen brannten. Irgendwie fühlte er sich anders. Älter. Er hatte nicht nur Menschen sterben sehen, sondern deren Tod in einigen Fällen auch selbst verursacht, er war mit Laudanum betäubt und mit einer Peitsche gefoltert worden. Wie konnte er da jetzt einfach wieder zurück zur Deepdene-Schule gehen?