Als Sandia näher herankam, zeichnete sich aus den dunklen Konturen jedoch nur eine einzelne Gestalt ab. Es war Virginia, und sie brachte Sandia unmittelbar neben Sherlock zum Stehen. Ein wilder Ausdruck lag in ihren Augen, und ihr Haar war vom Wind ganz zerzaust.
»Wo ist Matty?«, fragte Sherlock.
Ginny sprang vom Pferd herab, drückte sich an ihm vorbei und stürmte in das Cottage. Sherlock folgte ihr verblüfft.
»Sie haben Matty geschnappt!«, schrie sie.
»Wie meinst du das?«, fragte Mycroft und erhob sich von seinem Stuhl.
»Ich bin zu seinem Boot geritten und hab ihn dazu gebracht mitzukommen«, stieß sie hastig hervor. »Wir sind zu zweit auf Sandia geritten. Wir hatten gerade die Straße erreicht, als ein Baum die Straße blockierte. Als ich auf dem Hinweg dort vorbeigekommen bin, hat er noch nicht da gelegen, ehrlich. Ich hab daran gedacht, einfach darüberzuspringen. Aber mit Matty zusätzlich auf Sandias Rücken war ich nicht sicher, ob wir das schaffen würden. Also hab ich Sandia angehalten. Gerade als Matty und ich den Baumstamm von der Straße schieben wollten, kamen zwei Männer auf uns zugerannt. Sie müssen sich in den Büschen am Straßenrand versteckt haben. Einer von ihnen traf Matty am Kopf. Er ist dadurch gleich k.o. gegangen und hat sich überhaupt nicht mehr gewehrt. Der andere Mann hat sich auf mich gestürzt. Er hat versucht, mich an den Haaren zu packen. Aber als ich ihm in die Hand gebissen habe, hat er sie weggezogen. Ich bin zu Sandia gerannt, habe mich auf seinen Rücken geschwungen und bin Hals über Kopf davongaloppiert. Dann hab ich mich noch mal umgesehen und mitgekriegt, wie die zwei Matty fortgeschleppt haben.« Sie wirkte ganz geschockt und ihr Gesicht war kreidebleich. »Ich hab ihn einfach zurückgelassen!«, schrie sie, als hätte sie gerade erst realisiert, was geschehen war. »Ich hätte dableiben oder zurückkehren sollen, um ihn zu retten.«
»Wenn du das getan hättest, wärst du höchstwahrscheinlich auch geschnappt worden«, stellte Crowe klar. Mit einer für einen Mann seiner Größe erstaunlichen Geschwindigkeit stürmte er durch das Cottage, um sie an sich zu drücken und fest zu umarmen. »Gott sei Dank bist du in Sicherheit.«
»Aber was ist mit Matty?«, rief Sherlock
»Wir werden ihn befreien«, versprach Mycroft. »Es ist ganz offensichtlich, dass …«
Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, war zersplitterndes Glas zu hören. Etwas Schweres kam aus Richtung der zerborstenen Fensterscheibe geflogen und schlug mit dumpfem Ton auf dem Boden auf. Crowe rannte zum Eingang und riss die Tür auf. Von draußen konnte Sherlock Huftritte hören, als jemand auf einem Pferd davonpreschte. In dem nun einsetzenden lautstarken Gefluche von Crowe waren Worte enthalten, die Sherlock bisher noch nie gehört hatte. Allerdings fiel es ihm trotzdem nicht sehr schwer, ihre drastische Bedeutung zu erraten.
Sherlock bückte sich, um den Gegenstand aufzuheben, der durchs Fenster geworfen worden war. Es handelte sich um einen großen Stein. Ungefähr doppelt so groß wie eine geballte Faust. Mit Hilfe einer darumgebundenen Schnur war ein zerfetztes Stück Papier daran befestigt.
Mycroft nahm Sherlock den Stein aus der Hand und legte ihn auf den Tisch. Flink nahm er ein Messer vom Tisch und schnitt den Faden durch. »Besser wir lösen die Knoten nicht und bewahren sie auf«, sagte er zu Sherlock, ohne ihm das Gesicht zuzuwenden. »Sie könnten uns etwas über den Mann verraten, der sie geknüpft hat. Seeleute zum Beispiel benutzen eine ganze Reihe spezieller Knoten, die vielen Leuten nicht bekannt sind. Solltest du mal ein paar Tage nichts zu tun haben, würde ich dir wirklich empfehlen, dich eingehend mit Knoten zu beschäftigen.«
Er schob die Schnur beiseite, vermutlich um sie später noch zu untersuchen, wickelte das Papier vom Stein ab und strich es dann auf der Tischfläche glatt.
»Sieht aus wie eine Warnung«, sagte er zu Crowe und begann laut vorzulesen.
Wir haben euren Jungen. Hört auf, uns zu nachzustellen, und versucht nicht, uns weiter zu verfolgen. Wenn ihr uns in Ruhe lasst, bekommt ihr ihn zurück – in einem Stück und unversehrt. Tut ihr’s nicht, kriegt ihr ihn mehrere Wochen lang in Einzelteilen wieder. Ihr seid gewarnt.
Crowe hielt Virginia in den Armen. »Offensichtlich denken sie, dass Matty mein Sohn ist«, sagte er. »Vermutlich weil sie ihn gemeinsam mit Ginny auf dem Pferd gesehen haben. Aber sie werden ihren Irrtum bemerken, sobald sie ihn sprechen hören.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Mycroft. »Schließlich wissen sie nicht, wie lange Sie schon hier in England sind. Und vermutlich sind sie sich noch nicht einmal darüber im Klaren, dass Sie Amerikaner sind. Ich glaube vielmehr, dass unser junger Matty im Moment eher weniger zu befürchten hat. Aber zurück zur Nachricht. Lassen sich daraus irgendwelche Hinweise entnehmen?«
»Vergesst doch die blöde Nachricht! Wir müssen hinter ihnen her!«, schrie Sherlock.
»Der Junge hat recht«, brummte Crowe. »Es gibt Zeiten für Analysen und Zeiten für Taten. Dies ist eindeutig eine für Taten.« Er schob Virginia sanft von sich. »Du bleibst hier. Ich werde sie verfolgen.«
»Und ich komme mit«, verkündete Sherlock entschlossen. Als Crowe den Mund aufmachte, um zu protestieren, fügte er hinzu: »Matty ist mein Freund, und ich habe ihm die ganze Sache eingebrockt. Und außerdem können wir zu zweit ein viel größeres Gebiet absuchen.«
Crowe blickte zu Mycroft hinüber, der durch ein unmerkliches Nicken zu verstehen gegeben haben musste, dass er einverstanden war. Denn gleich darauf fuhr der Amerikaner fort: »Okay, junger Mann. Dann mal auf die Pferde. Wir reiten gleich los.«
Crowe steuerte auf die Hintertür zu, und Sherlock folgte.
Als sie nach draußen kamen, sah Sherlock zwei Pferde im Hof. Mit ihrem Halfter an einem Holzpfosten festgebunden, warteten sie geduldig vor einem kleinen Stall. Eines davon war fertig gesattelt. Sherlock erkannte das Tier. Es war Crowes Pferd. Das andere, eine schöne braune Fuchsstute, hatte er jedoch noch nie gesehen.
Crowe wies nickend auf die Stute, als er Sherlocks fragenden Blick bemerkte. »Die Fuchsstute gehört eigentlich unserem Vermieter. Virginia und ich haben sie in Pflege genommen und versprochen, sie von Zeit zu Zeit zu bewegen. Du kannst sie nehmen. Im Stall findest du einen Sattel.«
Ohne ein weiteres Wort machte Crowe sich daran, sein Pferd loszubinden, und Sherlock holte rasch den Sattel. Als er schließlich auf seinem Pferd saß, war der ungeduldige Crowe schon um die Ecke des Hauses galoppiert.
Sherlock drückte dem Pferd die Fersen in die Flanken und folgte seinem Lehrer in raschem Galopp.
Hinter einem zarten Wolkenschleier neigte sich die glühend rote Sonne bereits dem Horizont entgegen. Vor ihm preschte Crowe auf seinem Pferd dahin, und Sherlock gab sich große Mühe, ihn einzuholen. Das Trommeln der auf die Straße donnernden Hufe fuhr ihm bis in den Rücken hinauf und erzeugte eine Vibration im Körper, die es ihm schwermachte, richtig Luft zu holen.
Er fragte sich, woher Crowe wohl wusste, in welche Richtung sie mussten. Vermutlich hatte er rasch ein paar Überlegungen darüber angestellt, auf welcher Straße die Männer Farnham am wahrscheinlichsten verlassen würden, wenn sie auf dem Weg zur Küste waren. Wollten sie sich nach Amerika einschiffen, würden sie das am ehesten in Southampton machen. Andererseits konnte Crowe sich durchaus geirrt haben. Denn vielleicht hatten die Männer ja auch vor, mit dem Zug nach Liverpool zu fahren und dort unerkannt im Hafen an Bord zu gehen. Was bedeutete, dass sie Farnham in einer völlig anderen Richtung verlassen würden. Zum ersten Mal wurde Sherlock so richtig klar, dass man mit Logik manchmal nur bedingt weiterkam und dass sie selten eine einzige Antwort lieferte. Meistens ergaben sich mehrere Möglichkeiten, und man musste mit einer anderen Methode versuchen, die richtige zu finden. Man konnte das Intuition nennen oder Spekulation, auf jeden Fall aber war es keine Logik.