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Rechts und links flogen Cottages und Häuser so rasch vorbei, dass sie für Sherlock kaum voneinander zu unterscheiden waren. Doch in der Ferne konnte er einen großen Steinbau ausmachen, der auf einem Hügel thronte und bei dem es sich wohl um die Burg von Farnham handelte.

Trotz der Hitze, die die Erde während des Tages aufgenommen hatte und die nun wieder vom Boden abstrahlte, ließ ihm der an den Ohren vorbeirauschende Wind frösteln. Plötzlich meinte er, die Hufschläge seines eigenen Pferdes noch einmal als Echo zu hören, obwohl es in der Umgebung eigentlich nichts gab, an dem ein Echo hätte zurückgeworfen werden können. Er blickte über die Schulter und war ganz verblüfft, Virginia zu sehen, die, dicht an den Hals ihres Pferdes geschmiegt, hinter ihm hergaloppierte. Sie warf ihm ein breites Grinsen zu, und er grinste zurück. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass nichts und niemand Virginia von so einem Abenteuer abhalten konnte. Sie hatte wirklich absolut gar nichts mit den Mädchen gemeinsam, die Sherlock bisher kennengelernt hatte.

Sie galoppierten durch ein kleines Dörfchen.

Vor ihnen auf der Straße sprangen einige Dorfbewohner erschrocken auseinander, und Sherlock konnte hinter sich wütende Rufe hören, als sie weiterritten. Dann hatten sie die Siedlung hinter sich gelassen.

Wie lange würde Crowe wohl noch einfach so weiterreiten, bevor er sich eingestand, dass sie womöglich den falschen Weg eingeschlagen hatten?

Virginia war nun auf gleicher Höhe mit Sherlock. Mit leuchtenden Augen warf sie ihm einen Blick von der Seite zu. Sherlock vermutete, dass sie – ungeachtet der Dringlichkeit ihrer Mission – die Aktion in vollen Zügen genoss. Schließlich ritt sie für ihr Leben gern, und dies war die Chance, zu reiten, wie sie es wohl noch niemals zuvor getan hatte.

Sherlock blickte wieder geradeaus und stutzte. Da weiter vorne, hinter Amyus Crowes gedrungenem Körper und seinem großen weißen Hut, der trotz des rasenden Ritts wundersamerweise irgendwie auf seinem Kopf blieb, nahm er einen Gegenstand wahr, der sich anscheinend bewegte. Sherlock sah genauer hin und erkannte, dass es sich um eine Kutsche handelte. Heftig schaukelte sie hin und her, während sie auf der Straße entlangjagte. Im nächsten Augenblick fuhr sie schon so schnell in die Kurve, dass es sekundenlang so aussah, als würde sie umkippen. Über der Kutsche glaubte Sherlock die dünne Linie einer Peitsche zu erkennen, die vor- und zurückzuckte, als der Kutscher die Pferde zu immer größeren Anstrengungen trieb. War Matty etwa in der Kutsche? Der Kutscher unternahm offensichtlich alles, was in seiner Macht stand, um das Gefährt noch schneller über die Straße dahinfliegen zu lassen. Es musste schon ein großer Zufall sein, falls es nicht die Amerikaner waren, die sich dort vor ihnen befanden. Denn wer sonst sollte so verzweifelt versuchen, aus Farnham fortzukommen, dass er dabei in Kauf nahm, sich den Hals zu brechen?

Sherlock trieb sein Pferd zu noch größerem Tempo an, und das Tier gehorchte. Der Abstand zwischen ihm und Crowe verringerte sich, und er bekam einen besseren Blick auf die Kutsche.

Es handelte sich um ein vierrädriges Gefährt, das von zwei Pferden gezogen wurde. Heftig tanzten die Dämpfungsfedern auf und ab, während die Räder über die unzähligen Furchen, Löcher und Bodenwellen ratterten, die die Straße bedeckten.

Virginia zog langsam an Sherlocks linker Schulter vorbei. Wieder warf er einen Blick zu ihr hinüber. Sie hatte ihre Zähne entblößt, was fast wie ein Grinsen aussah, Sherlocks Vermutung nach aber tatsächlich wohl eher so etwas wie ein wütendes Zähnefletschen war.

Sherlock wandte den Blick nach rechts zu Crowe hinüber, den er nun eingeholt hatte. Seine Augen waren auf die Kutsche vor ihm fixiert und versprühten solch eine vulkanische Glut und Entschlossenheit, dass Sherlock es einen Augenblick lang mit der Angst zu tun bekam. Er hatte Crowe bisher immer als absoluten Gentleman erlebt, für den die Logik und das Sammeln von Fakten über allem standen. Aber Virginia hatte Sherlock einmal erzählt, dass Crowe in Amerika einst eine Art Menschenjäger gewesen war. Ein Jäger, der seine Beute oft auch tot zurückbrachte. Jetzt, da er Crowe so vor sich sah, konnte Sherlock sich das zum ersten Mal wirklich vorstellen. Keine Macht der Erde würde einen Mann mit solch einem Ausdruck in den Augen aufhalten.

Crowe trieb sein Pferd so heftig an, dass diesem mittlerweile Schaum vorm Maul stand, der in winzigen Flocken vom Wind fortgerissen wurde.

Vor ihnen krümmte sich die Straße in einem Bogen nach rechts, und die Kutsche fuhr in die Kurve, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren. Die beiden linken Räder lösten sich kurz von der Straße, und fast schien es, als würde die Kutsche jeden Augenblick umstürzen und von den Pferden auf der Seite weitergeschleift werden. Aber die Insassen mussten sich mit ihrem Gewicht nach links geworfen haben, denn plötzlich kippte die Kutsche wieder zurück, und die Räder krachten auf den Boden.

Dann hatten auch Sherlock, Crowe und Virginia die Krümmung erreicht. In rasendem Galopp legten sich ihre Pferde in die Kurve, so dass die Hufe trotz der enormen Geschwindigkeit ihren Halt auf dem Untergrund nicht verloren. Als sie wieder aus der Kurve kamen, sah Sherlock plötzlich einen Lastkarren vor sich, der der Kutsche auf der Straße entgegenkam und über und über mit Bündeln frisch gemähten Grases beladen war. Wild gestikulierend, versuchte der Fahrer die Kutsche zum Ausweichen zu bewegen. Aber schnell schien ihm klargeworden zu sein, dass es bereits zu spät war. Denn im nächsten Moment lenkte er den Karren seitwärts von der Straße herunter, wo er schließlich in einem Graben landete. In der nächsten Sekunde donnerte die Kutsche an ihm vorbei und verfehlte die Rückseite des Lastkarrens nur um wenige Zentimeter. Augenblicke später galoppierten auch Sherlock, Crowe und Virginia vorüber. Sherlock warf einen raschen Blick zur Seite, um zu sehen, ob dem Fahrer etwas passiert war. Der stand wild gestikulierend vor dem Karren. Doch dann waren sie auch schon vorbei, und der Mann verschwand hinter ihnen in der Ferne wie eine flüchtige Erinnerung.

Eine Bewegung seitlich an der Kutsche weckte Sherlocks Aufmerksamkeit. Ein Mann lehnte sich mit einer Art Stock in den Händen aus der Kabine. Der Mann richtete den Stock die Straße entlang in ihre Richtung, und plötzlich sah Sherlock eine Flamme an dessen Ende aufblitzen. Der Mann hatte ein Gewehr!

Sherlock konnte nicht sagen, wohin die Kugel geflogen war. Die Kutsche hüpfte so heftig auf und ab, während sie durch die Dämmerung preschte, dass der Schütze sein Ziel unmöglich genau ins Visier nehmen konnte. Aber das bedeutete natürlich nicht, dass nicht einer von ihnen oder eines der Pferde durch Zufall getroffen werden konnte.

Erneut gab der Mann einen Schuss ab, und diesmal glaubte Sherlock, die Kugel sogar hören zu können, als sie an ihm vorbeiflog: ein klingendes, sirrendes Geräusch, das an eine wütende Wespe erinnerte.

Crowe spornte sein Pferd zu noch größerer Anstrengung an, und einen Moment lang schien es so, als ob er der Kutsche näher käme. Er hielt die Zügel in einer Hand, während er mit der anderen an seinen Gürtel griff. Er zog einen Revolver hervor und richtete ihn auf den Mann, der sich aus der Kutsche herauslehnte. Crowe gab einen Schuss ab. Der Rückstoß riss ihm die Hand nach hinten und versetzte seinen Oberkörper in eine leichte Seitwärtsdrehung.

Der Mann mit dem Gewehr hatte sich blitzartig in das Innere der Kutsche zurückgezogen. Allerdings ließ sich von Sherlocks Position aus nicht feststellen, ob er rechtzeitig reagiert hatte oder verwundet worden war.

Einen Augenblick später führte sie die wilde Verfolgungsjagd an einem Flussufer entlang, auf dessen Oberfläche silberne Funken im letzten Licht der untergehenden Sonne glitzerten.

Plötzlich tauchte der Mann mit dem Gewehr wieder auf. Er lehnte sich auf der gleichen Seite aus der Kutsche wie zuvor, doch dieses Mal wandte er das Gesicht nach vorne. Er richtete die Waffe in Fahrtrichtung und drückte auf den Abzug. Aus der Mündung schoss erneut ein Flammenblitz hervor, der sich im Dämmerlicht wie eine exotische Blume entfaltete.