„Fangt endlich das Pferd ein!“, schrie er.
Doch alles rannte auf den Leichnam zu. Der Zentgraf lag gekrümmt auf der Seite, in einer Erdmulde. Eine wässrige Flüssigkeit rann aus dem verkürzten Bein. Auch im Tode war die Ähnlichkeit Mommos mit seinem Bruder Hauk noch erkennbar. Der runde Kahlschädel, die eng zusammenstehenden Augen …
Hrotbert beugte sich über den Toten und sah ihn lange nachdenklich an.
„Ein böses Ende hat es mit dir genommen, Mommo. Gott sei deiner armen Seele gnädig.“
Dann betrachtete er die scharfe Spitze des Pfeils, der im Hals des Toten steckte.
„Natürlich ein Awarenpfeil“, murmelte er.
7. Kapitel
Das Erscheinen des toten Mommo hatte der Gerichtsversammlung ein jähes Ende bereitet. Es war nicht einmal möglich, die Ordnung so weit wiederherzustellen, dass der Graf unseren Beschluss verkünden konnte. Wir versuchten dies auch gar nicht ernsthaft.
Ich glaube, wenn Siegram so geistesgegenwärtig gewesen wäre, die allgemeine Verwirrung zu nutzen, sein Pferd zu besteigen und zu fliehen, hätte ihn niemand verfolgt. Man hatte ihn fast vergessen. Ich selbst war später sogar überrascht, dass er im Untergeschoss des Saalhauses gefangen saß. Hrotbert hatte dies doch noch verfügt.
Was jetzt allein die Gemüter bewegte, waren der Mord am Zentgrafen Mommo und die seltsamen Umstände seiner Rückkehr als berittener Leichnam. Viele sahen ein großes Unglück voraus, wozu dies der himmlische Fingerzeig sein sollte. So offensichtlich irdisches Zutun war, ohne Gottes ausdrücklichen Befehl konnte ihrer Meinung nach kein toter Zentgraf auf ein lebendiges Pferd gelangen.
Aber auch vernünftige Überlegungen wurden angestellt. Der Pfeilschuss war zwar die Methode der Schufte, die irgendwo hinter Büschen lauerten, doch es war nicht deren Art, einen Ermordeten wieder nach Hause zu schicken. Also musste wohl mehr dahinter stecken. War man zu diesem Punkt gelangt, wurden die Stimmen gedämpft und man fragte sich, was das für ein Höllengaul war, dieser Impetus, den vor zwei Tagen noch der lebendige Herr Mommo geritten, den gestern Herr Hauk auf dem Markt verkauft und den der Königsbote erworben hatte, worauf er mit diesem zurückgekehrt, ihm aber heute abhanden gekommen war, um jedoch kurz darauf wieder aufzutauchen, nun mit dem toten Herrn Mommo im Sattel! Dies war ein eigenartiger circulus, ein schwerer Brocken, an dem überall mit Inbrunst gekaut wurde – auf dem Salhof, im Dorf, am Fluss, am Zaun, in den Scheunen und Ställen, im Backhaus, im Webhaus und natürlich in Petrissas Schänke.
Hier saß ich zur Dämmerstunde mit Rouhfaz in einer Ecke und wartete auf Odo.
Dabei waren wir nicht untätig. Es liegt nun einmal im Wesen des Menschen, dass er gewaltigen Respekt vor Machthabern hat, solange sie leben, doch auf sie spuckt, sobald sie tot sind. Der kleine König des Tals, Herr Mommo, war hier viele Jahre die Obrigkeit, denn den großen König kannte man nicht und auch der Graf ließ sich selten blicken. Und da die Obrigkeit von Gott ist, wie es in der Heiligen Schrift heißt, war man ihr untertan und schwieg. Noch am Morgen, beim Gang durch das Dorf, hatte ich fast nur zufriedene Bauern erlebt. Jetzt war der Zentgraf tot und man konnte sich endlich beschweren.
Die Erste, die an meinen Tisch stürzte und aus ihrem runzligen, zahnlosen Mund einen wahren Wasserfall von Beschwerden hervorbrachte, kannte ich schon. Es war dieselbe, die mir am Vormittag einiges zugeflüstert hatte und der ich schwören musste, sie nicht zu verraten. Sie sagte mir jetzt auch ihren Namen: Ermelinde, Witwe des Frotbert.
„Mommo hat alles genommen, was wir an Wertvollem besaßen! Einen Kupferkessel, zwei silberne Becher, sogar die fünf Goldmancusen, die mein Frotbert mal aus dem Krieg mitgebracht hatte … alles! Und warum? Weil Gaudulf, unser Nachbar behauptete, die Hufe hinter der Mühle gehöre nicht uns, sondern ihm. Angeblich hatte er als Kind seinen Großvater dort pflügen sehen. Hat man Worte für eine so freche Lüge? Mommo hatte ihn nur aufgehetzt, damit er von uns Geschenke bekam, der Gierschlund. Möge er in der Hölle braten!“
„Fluche nicht“, sagte ich. „Wir werden das alles überprüfen. Schreib, Rouhfaz: ‚Von Ermelinde ohne Gerichtsurteil ein Kupferkessel …‘“
Nach kurzer Zeit war der Tisch umringt und es ist ein Wunder, dass unser Schreiber und ich bei dem Geschiebe und Gedränge nicht erdrückt wurden. Rouhfaz warf den Bittstellern giftige Blicke zu, schrieb aber: „Von Landbert ohne Gerichtsurteil ein Pferdegeschirr, ein Wehrgehänge …“ – „Von Gausbold dem Jüngeren ohne Gerichtsurteil ein Ring, sechs Mutterschafe …“
Endlich kam Odo und erlöste uns. „Fort mit euch! Kommt morgen wieder!“ Zwei besonders Hartnäckige packte er bei den Haaren und stieß ihre Köpfe zusammen. „Ihr zwei seht selber wie Diebe aus!“
„Wir schwören, edler Herr …“
„Auch noch meineidig? Auf Meineid steht Hängen. Macht euch bereit!“
Weg waren sie.
Odo hatte sich gewaschen und die Kleider gewechselt. Bis auf eine Schramme an der Stirn hatte er keine Verletzungen erlitten.
„Herr Mommo sieht schlimmer aus“, sagte er lachend. „Wozu musste er sich auch so wollüstig auf mich stürzen! Ich nehme es ihm aber nicht übel, der alte Frauenheld hat sich geirrt. Kein Wunder, in seinem Zustand! Leider kam ich nicht von ihm los, wir verhakelten uns mit unseren Gürtelschnallen. Rieche ich noch nach ihm? In dem Fall müsste ich Siegrams Duftöl beschlagnahmen.“
Ich beruhigte ihn.
Petrissa kam heran, schenkte Odo ein vertrauliches Lächeln und stellte gleich einen Becher Wein vor ihm hin.
„Ist schon gesüßt, edler Herr!“
„Ich bemerke, wie stark dein Herz klopft, Petrissa“, sagte Odo, indem er dies sachkundig mit der Hand erfühlte. „Und ich gestehe, dass ich nichts lieber täte, als zur Abwechslung etwas Lebendiges zu umarmen. Aber jetzt gibt es erst einmal etwas zu tun. Wo ist dein Witzlaw?“
„Er holt Wasser. Warum?“
„So ein Junge streift doch im Wald umher. Sicher weiß er, wo sich das Grab des heiligen Ponz befindet.“
„Ja“, sagte sie und ihr Lächeln erstarb. „Aber ich lasse ihn nicht mehr dorthin.“
„Warum nicht?“
„Weil dort die Wilderer und Tierfänger sind.“
„Sieh an!“, sagte Odo und stieß einen Pfiff aus. „Da sind wir ja schon auf der sicheren Spur!“
„Sind das die Männer“, fragte ich, „die für Herrn Hauk das Wild zusammentreiben und einfangen?“
„Die und andere. Überall gibt es dort Fallen, Schlingen und Netze. Einmal fiel Witzlaw in eine Grube und konnte sich nicht allein befreien. Wäre nun ein Wolf oder Bär hinein gestürzt …“
„Ich brauche den Jungen als Führer, Petrissa“, sagte Odo. „Mein Wort darauf, dass er heil zurückkommt.“
„Bitte“, flehte die Frau, „verzichtet auf ihn! Wer sollte mir hier in der Wirtschaft helfen? Seht doch, die Schänke ist voll.“
„Einen Helfer habe ich mitgebracht. Für eine Schüssel Brei und ein Nachtlager wird er dir dienstbar sein. Komm her, Aimo!“
Der hübsche schwarzhaarige Bursche, der sich an der Tür herumgedrückt hatte, kam schüchtern heran.
„Sein Herr kann ihn heute Nacht entbehren, er wird auch bei Sonnenaufgang nicht dichten“, sagte Odo. „Was ist nun, Petrissa? Gilt der Tausch?“
„Da Ihr mir Euer Wort gebt …“, seufzte sie.
„Wir brechen auf, sobald meine Leute hier sind.“