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»Was suchst du eigentlich?« fragte der alte Kristallwarenhändler.

»Wie ich schon sagte, will ich meine Schafe zurückkaufen.

Und dazu benötigt man Geld.«

Der Alte gab noch etwas Glut in die Pfeife und nahm einen tiefen Zug.

»Seit nun schon dreißig Jahren besitze ich diesen Laden. Ich kenne den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Kristall und weiß genau, wie der Handel funktioniert.

Wenn du Tee in Kristallgläsern servierst, dann wird das Geschäft blühen. Dann muß ich meinen Lebensstil ändern.«

»Wäre das denn so schlimm?«

»Ich habe mich daran gewöhnt. Bevor du kamst, dachte ich noch, daß ich so viel Zeit hier verloren hätte, während all meine Freunde fortgezogen sind und ihre Geschäfte eingingen oder aufblühten. Das machte mich sehr traurig. Inzwischen erkenne ich jedoch, daß es nicht richtig war: Der Laden hat genau die überschaubare Größe, die ich mir gewünscht habe. Ich möchte mich nicht mehr verändern, weil ich nicht wußte, wie ich mich verändern soll. Ich habe mich schon zu sehr an mich selbst gewöhnt.«

Da der Jüngling hierauf nichts zu erwidern wußte, fuhr er fort: »Du warst ein Segen für mich. Und heute verstehe ich auch, daß jeder verweigerte Segen sich in einen Fluch verwandelt. Ich will nichts mehr vom Leben. Und du zwingst mich, Reichtümer und Möglichkeiten zu sehen, die ich nie kannte. Jetzt, wo ich sie und meine unzähligen Möglichkeiten kenne, werde ich mich noch elender fühlen als zuvor.

Denn nun weiß ich, daß ich alles haben könnte, aber ich will nicht.

›Wie gut, daß ich dem Eisverkäufer damals nichts gesagt habe‹, dachte der Jüngling.

Sie rauchten noch eine Weile die Nargileh, während die Sonne unterging. Sie unterhielten sich, und der Jüngling war zufrieden mit sich selber, daß er schon Arabisch sprach. Es hatte eine Zeit gegeben, wo er meinte, daß ihn die Schafe alles über die Welt lehren könnten. Aber sie konnten ihm kein Arabisch beibringen.

›Sicherlich gibt es noch vieles auf der Welt, was die Schafe nicht lehren können, überlegte er und beobachtete den Händler, ohne etwas zu sagen.›Schließlich sind sie nur auf der Suche nach Nahrung und Wasser. Ich glaube, daß nicht sie mich lehren, sondern daß ich lerne.‹

»Maktub«, sagte endlich der Händler.

»Was ist das?«

»Um das zu verstehen, muß man Araber sein«, antwortete er.

»Aber die Übersetzung wäre ungefähr so:›Es steht geschrieben.«‹

Und während er die Glut der Nargileh löschte, sagte er, daß der Jüngling Tee in Gläsern verkaufen könne. Manchmal ist es unmöglich, den Lebensstrom aufzuhalten.

Die Menschen gingen den Hang hinauf und wurden dabei müde. Dann fanden sie dort oben den Laden mit wunderschönen Kristallgefäßen, in denen erfrischender Pfefferminztee angeboten wurde. Sie gingen hinein, um Tee zu trinken, den man ihnen in schönen geschliffenen Gläsern servierte.

3

»Daran hat meine Frau noch nie gedacht«, sann ein Mann nach und kaufte einige Gläser, denn er erwartete für diesen Abend Besuch: Seine Gäste

würden sicher von der Schönheit der Gläser beeindruckt sein.

Ein anderer schwor darauf, daß der Tee aus Kristallgläsern viel schmackhafter sei, weil sie das Aroma besser erhalten. Ein dritter meinte, daß es Tradition im Orient wäre, geschliffene Gläser für Tee zu verwenden, wegen ihrer magischen Kräfte.

In kurzer Zeit hatte sich die Neuigkeit verbreitet, und viele Leute kamen den Hang herauf, um den Laden kennenzulernen, der in so einem alteingesessenen Handel etwas Neues zu bieten hatte. Andere Teeläden mit Kristallgläsern wurden eröffnet, doch sie befanden sich nicht oberhalb eines Hanges und blieben deshalb immer leer.

So mußte der Händler innerhalb kürzester Zeit noch zwei weitere Angestellte einstellen. Er importierte, zusammen mit den Kristallgefäßen, riesige Mengen von Tee, die täglich von Männern und Frauen mit Durst auf etwas Neues konsumiert wurden. Und so vergingen sechs weitere Monate.

4

Der Jüngling erwachte noch vor Sonnenaufgang. Inzwischen waren elf Monate und neun Tage vergangen, seit er erstmals seinen Fuß auf den afrikanischen Kontinent gesetzt hatte. Er zog das arabische Gewand aus weißem Leinen an, das er eigens für diesen Tag erworben hatte. Dann band er sich das Tuch um den Kopf und befestigte es mit einem Ring aus Kamelhaut. Er schlüpfte in die neuen Sandalen und ging hinunter, ohne ein Geräusch zu machen.

Die Stadt lag noch im Schlaf. Er machte sich ein Sesambrot und trank dazu einen heißen Tee aus dem Kristallglas. Dann setzte er sich auf die Türschwelle und rauchte für sich allein die Nargileh. Er paffte still vor sich hin, ohne an etwas zu denken, und lauschte nur dem gleichmäßigen Rauschen des Windes, der den Duft der Wüste brachte. Dann steckte er die Hand in eine der Taschen des Gewandes und bestaunte eine Weile das Päckchen, das er hervorgeholt hatte.

Es war ein großes Geldbündel, genug, um einhundertzwanzig Schafe sowie eine Rückfahrkarte und eine Bewilligung für den Handel zwischen seinem Heimatland und dem Land, wo er sich befand, zu kaufen. Geduldig wartete er ab, bis der Alte wach wurde und den Laden aufschloß. Dann tranken sie gemeinsam noch einmal Tee.

»Ich werde heute abreisen«, eröffnete ihm der Jüngling. »Ich habe jetzt genug Geld, um meine Schafe zurückzukaufen. Und Sie genug, um nach Mekka zu pilgern.«

Der Alte blieb stumm.

»Bitte gebt mir Euren Segen«, bat der Junge. »Ihr habt mir sehr geholfen.«

Der Alte rührte stumm in seinem Tee. Endlich wandte er sich dem Jüngling zu und sagte: »Ich bin stolz auf dich, mein Junge.

Du hast meinem Kristallglasgeschäft eine Seele verliehen. Aber du weißt, daß ich nicht nach Mekka gehe. Ebenso wie du weißt, daß du keine Schafe kaufen wirst.«

»Wer sagt das?« fragte der Jüngling erschrocken.

»Maktub« war alles, was der Kristallwarenhändler erwiderte.

Und er segnete ihn.

5

Der Jüngling ging auf sein Zimmer und suchte alles, was er besaß, zusammen. Es ergab drei Beutel voll. Als er gerade im Begriff war zu gehen, bemerkte er seinen alten Hirtenrucksack in einer Ecke des Zimmers. Er erkannte ihn kaum wieder, so abgewetzt sah er aus. Darin waren noch das dicke Buch und der Mantel. Als er den Mantel herausnahm, um ihn irgendeinem Straßenjungen zu schenken, fielen die beiden Steine zu Boden.

Urim und Thummim.

Nun erinnerte er sich wieder an den alten König und bemerkte überrascht, wie lange er schon nicht mehr an ihn gedacht hatte.

Seit einem Jahr war er bloß noch mit Geldverdienen beschäftigt gewesen, um nur ja nicht als Versager nach Spanien zurückkehren zu müssen.

»Gib nie deine Träume auf«, hatte der Alte gesagt, »folge den Zeichen.«

Der Jüngling hob die beiden Steine auf und hatte dabei wieder das seltsame Gefühl, daß sich der alte König in der Nähe befände. Ein Jahr lang hatte er hart gearbeitet, und nun deuteten die Zeichen darauf hin, daß es an der Zeit sei abzureisen.

›Jetzt werde ich wieder genau das gleiche sein wie früher, dachte er.›Dabei haben mir die Schafe kein Arabisch beigebracht.‹

Doch etwas viel Wichtigeres hatten ihn die Schafe gelehrt: daß es in der Welt eine Sprache gab, die jeder verstand und die der Jüngling die ganze Zeit über benutzt hatte, um das Geschäft zu beleben. Es war die Sprache der Begeisterung, des Einsatzes mit Liebe und Hingabe für die Dinge, an die man glaubt oder die man sich wünscht. Tanger war für ihn keine fremdartige Stadt mehr, und er fühlte, daß er die ganze Welt erobern könnte, auf die gleiche Weise, wie er diesen Ort erobert hatte. »Wenn du etwas ganz fest willst, wird das ganze Universum darauf hinwirken, daß du es verwirklichen kannst«, hatte der alte König behauptet.