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»Ich bin ein Alchimist, weil ich einer bin«, sagte er, während er die Mahlzeit zubereitete. »Ich erlernte diese Wissenschaft von meinen Vorvätern, die sie wiederum von ihren Vorvätern lernten, und so weiter bis zur Entstehung der Welt. Zu jener Zeit konnte die ganze Weisheit des Großen Werkes noch auf einem einfachen Smaragd geschrieben stehen. Aber die Menschen schenkten den einfachen Dingen keine Beachtung und fingen an, Abhandlungen, Erläuterungen und philosophische Studien zu verfassen. Sie fingen auch an zu behaupten, daß sie den Weg besser kannten als die anderen.

Aber die Smaragdtafel ist bis heute wirksam geblieben.«

»Was stand denn darauf?« wollte der Jüngling wissen.

Der Alchimist begann in den Sand zu malen und brauchte nicht länger als fünf Minuten dazu. Während er malte, dachte der Jüngling an den alten König und den Marktplatz, wo sie sich eines Tages begegnet waren; es erschien ihm, als lägen unendlich viele Jahre dazwischen.

»Das stand auf der smaragdenen Tafel«, sagte der Alchimist, als er fertig war.

Der Jüngling näherte sich, um die Worte zu lesen, die im Sand aufgezeichnet waren.

»Das ist ja eine Geheimsprache«, stellte er enttäuscht fest. »Es ähnelt den Büchern des Engländers.«

»Nein«, entgegnete der Alchimist. »Es ist wie der Flug der Sperber; es soll nicht nur vom Verstand erfaßt werden. Die Smaragdtafel stellt einen direkten Zugang zur Weltenseele dar.

Die Weisen hatten erkannt, daß diese Welt lediglich ein Abbild des Paradieses ist. Die bloße Existenz dieser Welt ist die Garantie dafür, daß es eine vollkommenere Welt gibt. Gott erschuf diese Welt, damit der Mensch durch das Stoffliche seine geistigen Gesetze erkennen lernt. Das ist es, was ich unter Handeln verstehe.«

»Muß ich überhaupt die Smaragdtafel verstehen?« fragte der Jüngling.

»Vielleicht, wenn du in einem Alchimie-Labor tätig wärst, dann wäre nun der Moment gekommen, um die beste Möglichkeit ausfindig zu machen, die Smaragdtafel zu entziffern. Aber du befindest dich in der Wüste. Diese dient ebensogut dazu, die Welt zu verstehen, wie jedes andere Mittel auf dieser Erde. Du brauchst die Wüste nicht einmal ganz zu verstehen: Es genügt, wenn du dich in die Betrachtung eines einzigen Sandkorns versenkst, und du wirst darin alle Herrlichkeiten der Schöpfung wiederfinden.«

»Was kann ich tun, um in die Wüste einzutauchen?«

»Höre auf die Stimme deines Herzens. Es kennt alle Dinge, denn es kommt aus der Weltenseele und wird eines Tages dorthin zurückkehren.«

26

Sie zogen abermals zwei Tage weiter, ohne sich zu unterhalten. Der Alchimist wurde noch vorsichtiger, weil sie sich der Gegend mit den heftigsten Kämpfen näherten. Und der Jüngling versuchte, die Stimme seines Herzens wahrzunehmen.

Es war ein schwieriges Herz: Vorher war es daran gewöhnt, immer abzureisen, und nun wollte es unbedingt ankommen.

Manchmal erzählte ihm sein Herz stundenlang Sehnsuchtsgeschichten, ein andermal war es vom Sonnenaufgang in der Wüste derart bewegt, daß der Jüngling heimlich weinen mußte. Das Herz schlug schneller, wenn es ihm von dem Schatz erzählte, und langsamer, wenn sich der Blick des Jünglings am unendlichen Horizont verlor. Aber es schwieg nie, selbst wenn der Jüngling kein einziges Wort mit dem Alchimisten wechselte.

»Warum müssen wir auf die Stimme des Herzens hören?«

fragte der Jüngling, als sie am Abend Rast machten.

»Weil dort, wo es weilt, auch dein Schatz liegen wird.«

»Mein Herz ist aufgeregt«, sagte der Jüngling. »Es hat Träume, erregt sich ständig und ist in eine Wüstenfrau verliebt.

Es bittet mich um allerlei und läßt mich viele Nächte nicht schlafen, wenn ich an Fatima denke.«

»Das ist gut so. Dann lebt dein Herz. Lausche weiterhin, was es dir zu sagen hat.«

An den drei darauffolgenden Tagen kamen die beiden an einigen Kriegern vorbei, und sie sahen andere Krieger in der Ferne. Das Herz des Jünglings begann über die Angst zu sprechen. Es erzählte Geschichten, die es von der Weltenseele gehört hatte, Geschichten von Männern, die auf der Suche nach ihrem Schatz waren und ihn nie fanden. Manchmal erschreckte es den Jüngling mit dem Gedanken, daß er seinen Schatz nicht erreichen würde, oder daß er in der Wüste sterben könnte. Ein andermal redete es dem Jüngling ein, daß es bereits zufrieden sei, weil es die Liebe und viele Goldmünzen gefunden habe.

»Mein Herz ist trügerisch«, sagte er zum Alchimisten, als sie anhielten, um den Pferden eine Pause zu gönnen. »Es will nicht, daß ich weitergehe.«

»Das ist in Ordnung«, entgegnete der Alchimist. »Es beweist, daß dein Herz lebendig ist. Es ist ganz natürlich, Angst davor zu haben, alles, was man bereits erreicht hat, für einen Traum einzutauschen.«

»Warum soll ich dann auf mein Herz hören?«

»Weil du es niemals zum Schweigen bringen kannst. Und selbst wenn du so tust, als ob du es nicht hörst, so wird es doch immer wiederholen, was es vom Leben und von der Welt hält.«

»Selbst wenn es trügerisch ist?«

»Wenn es dich zu täuschen vermag, so ist es wie ein Hieb, auf den du nicht gefaßt bist. Wenn du dein Herz gut kennst, dann wird nichts unerwartet kommen. Denn du wirst deine Träume und deine Wünsche kennen und mit ihnen umgehen können.

Niemand kann vor der Stimme seines Herzens fliehen. Deshalb ist es besser, darauf zu hören. Damit niemals ein Hieb kommt, auf den du nicht gefaßt bist.«

Der Jüngling lauschte weiter der Stimme seines Herzens, während sie durch die Wüste zogen. Er lernte dessen List und Tücke kennen und nahm es so an, wie es war. Dann verlor er plötzlich die Angst und wollte auch nicht wieder umkehren, denn sein Herz sagte ihm eines Nachmittags, daß es zufrieden sei.

»Selbst wenn ich manchmal ein bißchen klage«, sagte die Stimme des Herzens, »schließlich bin ich ein Menschenherz, und diese sind nun mal so. Sie haben Angst davor, sich ihre größten Wunschträume zu erfüllen, weil sie denken, daß sie es nicht verdient haben oder es nicht erreichen werden. Wir Herzen sterben vor Angst bei dem bloßen Gedanken, daß unsere Lieben uns für immer verlassen, daß Momente, die gut hätten sein können, es nicht waren, daß Schätze, die entdeckt werden könnten, für immer im Sand versteckt bleiben. Denn wenn das passiert, dann leiden wir sehr.«

»Mein Herz fürchtet sich vor dem Leiden«, sagte der Jüngling zu dem Alchimisten, eines Nachts, als sie den mondlosen Himmel betrachteten.

»Dann sag ihm, daß die Angst vorm Leiden schlimmer ist als das eigentliche Leid. Und daß noch kein Herz gelitten hat, als es sich aufmachte, seine Träume zu erfüllen, denn jeder Augenblick des Suchens ist ein Augenblick der Begegnung mit Gott und mit der Ewigkeit.«

»Jeder Moment des Suchens ist ein Moment der Begegnung«, sagte der Jüngling seinem Herzen »Während ich meinen Schatz suchte, waren alle Tage erfreulich, denn ich wußte, daß mich jede Stunde meinem Traum naher brachte Während ich meinen Schatz suchte, entdeckte ich Dinge auf meinem Weg, von denen ich nie geträumt hatte, wenn ich nicht den Mut gehabt hatte, Dinge zu versuchen, die Hirten sonst versagt bleiben«

Daraufhin beruhigte sich sein Herz. Nachts konnte der Jüngling wieder ruhig schlafen, und als er erwachte, erzählte ihm sein Herz von der Weltenseele Es sagte, daß jeder glückliche Mensch Gott in sich trage Und daß das Gluck in einem einfachen Sandkorn der Wüste zu finden sei, genau wie es der Alchimist gesagt hatte Denn ein Sandkorn ist ein Augenblick der Schöpfung, und das Universum hat Millionen von Jahren dazu benötigt, es hervorzubringen

»Jeder Mensch auf Erden hat einen Schatz, der ihn erwartet«, sagte sein Herz »Wir Herzen sprechen jedoch wenig von diesen Schätzen, weil die Menschen sie schon gar nicht mehr entdecken wollen Nur den Kindern erzählen wir davon Dann überlassen wir es dem Leben, jeden seinem Schicksal entgegenzuführen Aber leider folgen nur sehr wenige dem Weg, der für sie vorgesehen ist und der der Weg zu ihrer inneren Bestimmung ist und zum Glück. Sie empfinden die Welt als etwas Bedrohliches - und darum wird sie auch zu etwas Bedrohlichem. Dann sprechen wir Herzen immer leiser, aber ganz schweigen tun wir nie. Und wir hoffen, daß unsere Stimme überhört wird. Wir wollen nämlich nicht, daß die Menschen leiden, weil sie nicht ihren Herzen gefolgt sind«