Selbst wenn Fassin jemals wieder auftauchen sollte, hatte Saluus zunächst gedacht, hätte er so viel verloren, dass Liss sicher nicht wieder zu ihm zurückkehren würde. Doch dann hatte er sich daran erinnert, dass die Menschen manchmal alle Erwartungen enttäuschten. Besonders Frauen waren fähig, sich in eine bestimmte Form von an sich rühmlicher, tatsächlich aber fehlgeleiteter und sogar schädlicher Nächstenliebe zu verrennen und sich selbst zu opfern, wenn jemand vom Schicksal hart getroffen wurde. Zum Glück hatte Jaal Tonderon überlebt. Sal und seine Frau hatten sie eine Weile zu sich eingeladen, um sie aufzumuntern. Er wollte, dass sie stark wäre, falls Fassin jemals den Rückweg fände und sie alle noch hier wären.
Die Dweller-Abordnung war ein großer Erfolg gewesen. Die Dweller hatten offenbar den dringenden Wunsch, für das Missverständnis im Sturm Wiedergutmachung zu leisten, und die Ulubis-Merkatoria wollte um keinen Preis einen hoffnungslosen Krieg an zwei Fronten führen. Man hatte Uerkle, einen anderen Mond, zum Standort für die neue Gemeinschaftsanlage der Seher bestimmt – die Anlage befand sich inzwischen längst im Bau – und einer kleinen Flotte gestattet, um den Gasriesen in den Orbit zu gehen. Die Seher hatten wieder mit direkten Trips begonnen – die Ausrüstung für virtuelle Trips war noch nicht vollständig installiert – und die Dweller merkten entweder nicht oder kümmerten sich nicht darum, dass viele von den neuen vermeintlichen Sehern in Wirklichkeit Kundschafter – genauer gesagt Spione – der Navarchie, der Cessoria und der Justitiarität waren. Sie hatten die Aufgabe, nach Fassin Taak zu suchen, nach einem ebenfalls verschwundenen Dweller namens Valseir, nach jeder Spur von den Waffen, die während der Schlacht im GasClipper-Sturmrennen gegen die Streitkräfte der Merkatoria eingesetzt worden waren, sowie nach eventuellen Hinweisen auf die Dweller-Liste und allem, was auch nur entfernt damit zu tun haben könnte. Bislang war der Erfolg leider ausgeblieben. Auch die Schiffe dieser Kundschafter mussten gekennzeichnet, mit Spürsendern ausgerüstet und von einem Dweller-Führer eskortiert werden, aber es war immerhin ein Anfang.
Ebenfalls im Anfangsstadium – und bislang ebenfalls erfolglos – waren die Verhandlungen mit den Dwellern mit dem Ziel, ein Bündnis zu schließen oder die Dweller-Waffen in die merkatorialen Hände zu bekommen. Die Dweller hatten gezeigt, dass sie über Offensivkapazitäten verfügten – streng genommen hatten sie sich nur verteidigt, aber das spielte keine Rolle –, die ihnen niemand zugetraut hätte. wenn man sie dazu bewegen könnte, ein Bündnis mit dem Rest des Ulubis-Systems einzugehen, ließe sich das Kräfteverhältnis zwischen Invasoren und Verteidigern vielleicht umkehren. Selbst wenn die Dweller nur einen Teil ihres militärisch-technischen Wissens preisgäben – oder bereit wären, einige ihrer Hyperwaffen zu verleihen oder zu vermieten –, könnte das Ulubis so stärken, dass es fähig wäre, sich allein gegen die Invasion zu wehren, ohne auf das Eintreffen der Generalflotte warten zu müssen.
Und wenn dieser Plan scheiterte, müsste man sich überlegen, wie man die Invasionsflotte der Hungerleider zu einem Angriff auf Nasqueron bewegen könnte, damit sie sich an den Wunderschiffen, die bei der Sturmschlacht die Streitkräfte der Navarchie zerstört hatten, die Köpfe einrannte.
Stoff zum Nachdenken gab es genug.
Saluus hatte eine Jacke angezogen, als er ins Freie ging, aber keine Handschuhe, und musste nun die Hände in die Taschen stecken. Plötzlich war Liss an seiner Seite, schob ihren Arm unter den seinen und schmiegte sich an ihn. Der Duft ihrer Haut war berauschend. Er schaute auf sie hinab, und sie presste sich fester an ihn und folgte seinem Blick nach Süden zur Lichterkette der Orbitalbauten.
Er spürte, wie sie in der Kälte zitterte. Sie war nur leicht bekleidet. Er zog seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern, eine Geste, die er aus Filmen kannte. Sie gab ihm immer noch ein gutes Gefühl. Er selbst fror nicht, obwohl es kälter geworden war und oben ein Wind aufkam. Jemand hatte ihm erklärt, es handle sich um einen teil-katabatischen Wind: die kalte Luftströmung von den höher gelegenen Eiswüsten verdränge die wärmere, weniger dichte Luft weiter unten, fließe sanft aber unaufhaltsam abwärts und ergieße sich wie der Geist des gefrorenen Wassers über den Rand der Klippe.
Lange standen sie schweigend da, dann erinnerte ihn Liss, dass er vor dem Abendessen zu einem Gespräch unter vier Augen mit Peregal Emorte verabredet sei. Doch bis dahin war noch Zeit. Jetzt begann Saluus doch zu frösteln, aber er wollte erst hineingehen, wenn er zitterte. Der Himmel war vollends dunkel geworden. Saluus beobachtete, wie ein planetennaher Satellit wie ein Fünkchen über sie hinwegzog. Neben ihm zuckte Liss zusammen. Er zog sie fester an sich.
»Was ist das?«, fragte sie wenig später und streckte den Arm aus.
Er folgte ihrem Finger. Im Westen, wo Ulubis untergegangen war, war noch ein schwacher violetter Schimmer zu sehen. Etwas über dem Horizont, im unteren Himmelsabschnitt, hinter und über der Stelle, wo der Widerschein des Orbitalbandes am stärksten war, flackerten Lichter. Ein annähernd runder Fleck aus leuchtend blauen Punkten, etwa so groß wie eine auf Armeslänge gehaltene Münze, der mit jeder Sekunde größer wurde. Die flimmernden blauen Punkte verfestigten sich allmählich. Immer mehr leuchteten auf, das kleine Himmelsfenster füllte sich mit kaltem blauem Feuer und stand fast reglos in der frostig stillen Luft über den gefrorenen Ebenen.
Saluus begann zu zittern, aber nicht vor Kälte. Er setzte zum Sprechen an, doch Liss schaute zu ihm auf und sagte: »Das sind sie, nicht wahr? Die Kerle vom Hungerleider-Kult. Das E-5-Separat. Die Invasionsflotte. Sie bremst ab.«
»Wohl schon«, sagte Sal. Der Knopf in seinem Ohr pfiff, und das Komgerät in der Suite trillerte kläglich. »Wir sollten reingehen.«
Wieder benommen. Immer noch in der Fahrgast/Frachtkabine der Velpin. Fassin fuhr die Systeme des Gasschiffchens wieder hoch. Der Bildschirm spielte verrückt, wurde klar, zeigte Sterne, erst fest, dann schwankend, und schließlich einen Planeten – grünlich blau und weiß. Auf den ersten Blick erschien Fassin die Welt fremd, ungeeignet für ein Leben ohne Schutzanzug. Dann erkannte er, dass sie aussah wie ’glantine oder Sepekte; oder wie die Bilder, die er von der Erde gesehen hatte. Du wirst zum Gasriesenbewohner, sagte er sich. Denkst schon wie ein Dweller. das ging gewöhnlich nicht so schnell.
»Oh verdammt!«, rief Y’sul und starrte das Bild auf dem Schirm wütend an. »Das ist noch nicht einmal ein richtiger Scheißplanet!«
Die Wellen rasten heran, als hätte jemand blinde Starrköpfigkeit konzentriert und in flüssige Form gebracht. Unermüdlich und langsam warfen sie sich gegen die zerklüfteten, massiven Felsbarrieren. Immer neue lang gestreckte, niedrige Wasserfronten bäumten sich auf und stürzten herab wie allzu schwere, unbeholfene Akrobaten, rollten wieder hoch und kippten, hoffnungsvoll und hoffnungslos zugleich, nach vorne, wurden auf den brüchigen steinernen Totenacker geschmettert und zerbarsten zu Gischt und Schaum.
Wenn das Wasser nach jeder Attacke wieder ablief, schleuderte es Felsblöcke, größere und kleinere Steine zwischen den stumpfen und spitzen Granitsäulen umher. Es schälte sich ab wie eine nasse Haut, und das Klappern der Steine berichtete von den allmählichen Erfolgen seiner Beharrlichkeit. Die Wellen – der Ozean – nagten am Festland, sie spalteten es, brachen Stücke ab, schlugen mit Felsen gegen die Felswände, bis Risse entstanden, teile herabstürzten und zerschellten. So schliff das Meer über Jahrhunderte und Jahrtausende mit unbeirrbarem Leistungswillen das Land zu einer neuen Form zurecht.