– Wir sind auf dem Weg zum Chistimonouth-System, erklärte der Diensthabende Rezeptionär Neunter Lapidarius dem Dweller und dem Menschen. Sie folgten einem breiten, gekrümmten Korridor tief im Innern des Riesenschiffs. Das große Vogelwesen steuerte mit einem der zwei dünnen Vordergliedmaßen einen kleinen käfigartigen Wagen über eine Monoschiene im Zentrum des Tunnels. Der Wagen fuhr vollkommen lautlos, und auch die Dunkelheit war vollkommen. Sie mussten Aktivsensoren einsetzen, um in dem scheinbar endlosen Gang überhaupt sehen zu können. – Wir suchen nach den sterblichen Überresten einer serpenterischen Zivilisation, mit der erst seit kurzem Kontakt besteht, möglicherweise ein Ableger der Desii-Chau (die bedauerlicherweise selbst nicht mehr sind; wenn nicht bereits ausgestorben, dann bestenfalls weit im fünften Stadium des Niedergangs). Niemand kümmerte sich darum, als sie vor ein paar Jahrhunderten durch eine Serie von Sonneneruptionen ausgelöscht wurde. Der einzige von ihr bewohnte Planet trug schwere Schäden davon. Es gab dort nur eine empfindungsfähige Spezies, von der angeblich niemand überlebt hat. wenn wir in einigen Jahrzehnten dort ankommen, wird es uns eine Ehre sein, in diesen heiligen Hallen so viele von den noch nicht Bestatteten beizusetzen, wie wir nur können.
– In welchem Zustand werden die Unbestatteten sein?, fragte Y’sul. Schweben sie im All? Oder sind sie längst in ihren eigenen Tiefen versunken? In Wasser oder Schlamm oder flüssigem Fels vielleicht?
Die Korridore waren von Toten gesäumt – die Leichen waren innen an die Tunnelröhren geklammert, geheftet, genagelt oder kryogeschweißt.(Begriffe wie Böden, wände und Decken waren nur von Bedeutung, solange das Schiff unter Schub stand, was nur zeitweise der Fall war.) Manche Körper konservierte man am besten in Höhlungen oder Nischen, die mit Diamantfolie verschlossen wurden.
– Wer dieses Glück hatte, bleibt im Untergrund, erklärte der Diensthabende. Einige Überreste werden sich vermutlich auch nach so langer Zeit noch in Gebäuden finden lassen. Aus den Berichten diverser Kundschafterspezies ist zu entnehmen, dass sich viele namenlose Kadaver im Weltall an den Lagrange-Punkten angesammelt haben.
– Und wenn sie nicht mehr da sind?, fragte Y’sul. – Wenn euch jemand zuvorgekommen ist und sie … aufgegessen oder wiederverwertet oder sonst etwas mit ihnen angestellt hat?
– Dann ziehen wir weiter zum nächsten Ort, wo wir die Toten ehren können, erklärte der schwarze Vogel ungerührt.
– Wenn ich so recht überlege, sagte Y’sul vergnügt, – könnte es an einem Ort namens Ulubis schon bald ein paar Kadaver geben, die man einsammeln sollte.
Fassin sah den Dweller strafend an, aber der beachtete ihn nicht.
– Ulubis, sagte der Diensthabende. – Den Namen habe ich noch nie gehört. Ist das ein Planet?
– Ein System, antwortete Y’sul. Heimat des Planeten Nasqueron. Liegt im Quaternärstrom in einer der Südlichen Riffranken.
– Ach so. Ziemlich weit weg von hier.
– Es gibt viele Menschen dort, und noch mehr sind dorthin unterwegs, erläuterte Y’sul. – Wahrscheinlich kommt es zum Krieg. Und dann gibt es wahrscheinlich viele Tote. Ihr sammelt doch auch Menschen, oder?
– Schwierigkeiten bereiten uns nur gewisse Cincturier-Spezies, erklärte das Vogelwesen. Von Menschen haben wir schon gehört und sie in der Vergangenheit auch aufgenommen, aber nicht mit diesem Schiff. Ich werde Ihre Information baldmöglichst an das nächste Nekro-Schiff weitergeben. Natürlich könnte es sein, dass man dort bereits Bescheid weiß oder sich sogar schon auf den Weg gemacht hat. Aber wir sind für den Hinweis sehr dankbar.
– Gern geschehen, sagte Y’sul. Es klang zufrieden. Sein Blick wanderte zu Fassin. – Was hast du?
Fassin wandte sich ab. Hier klebten die Leichen wie kleine erstarrte Vulkanexplosionen an der Tunneloberfläche. – Palonne, erklärte ihr Führer. – Natürlich ossifiziert. Kriegsopfer. Von einem parasitischen Steinfäulnisvirus befallen.
– Faszinierend, sagte Y’sul. – Wie weit ist es noch bis zu diesem Leisicrofe?
Der Diensthabende konsultierte einen kleinen Bildschirm, der an einem seiner zusammengebundenen Flügel befestigt war. – Nur noch ein paar hundert Meter.
– Was treibt er denn hier überhaupt?, fragte Y’sul.
– Was er treibt? Der Ythyn klang unsicher.
– Er … will euch wahrscheinlich nur studieren, wie?
– Nein. natürlich nicht.Der Ythyn-Offizier schwieg kurz. – Du meine Güte.
Fassin und Y’sul sahen sich an.
Fassin fragte: – Das soll doch wohl nicht heißen, dass er tot ist?
– Doch, sicher. Natürlich. Sie sind auf einem Nekro-Schiff, meine Herren. Ich dachte, Sie wollten nur die Leiche sehen.
Die Nachricht kam, während sie schlief. Die Aufzeichnung war mehrere Stunden alt. Taince betrachtete die schwachen, blau verschobenen Lichter, die sich aus der Richtung des E-5-Separats näherten. Sie waren von der Seite aufgenommen. Die Hungerleider-Flotte befand sich im Anflug auf das Ulubis-System und hatte mit dem Abbremsen begonnen. Die Invasoren würden noch fast drei Monate brauchen, um Ulubis zu erreichen. Die Generalflotte war noch vier Monate entfernt. Sie würde ihr wesentlich dramatischeres Bremsmanöver in etwas mehr als achtzig Tagen einleiten. Ihre Taktiker hatten allein aus dem Bremsprofil der Flotte des E-5-Separats eine Menge erfahren.
Erstens war die Flotte groß: mehr als tausend Schiffe, es sei denn, die Hungerleider hätten haarsträubend raffinierte Methoden, um Triebwerkssignaturen zu fälschen. Zweitens flog sie zu fünfundneunzig Prozent in geschlossener Formation, nur ein paar Dutzend kleinerer Schiffe wagten sich etwas weiter voraus. Das mochte bedeuten, dass auf direktem Kurs eine zweite, in größerer Entfernung bremsende Flotte hinterher kam, die noch nicht zu orten war, aber das war vom Rest des Profils her eher unwahrscheinlich. Aus der Größe, der Auflösung und der Frequenzverschiebung der Triebwerkssignaturen ergab sich, dass es sich um eine relativ langsame Truppe aus technisch veralteten, mittelgroßen Schiffen handelte. Im Grunde bestanden überdurchschnittlich gute Chancen, dass alle bis auf die leichtesten Einheiten der Generalflotte alle bis auf die schwersten Invasorenschiffe angreifen und schlagen konnten. Und was man nicht schlagen konnte, dem konnte man davonfliegen (was allerdings nicht viel nützte, wenn es kein Ziel mehr gab).
Ein dicker Brocken war darunter, ein Riesenkahn, wahrscheinlich eine Kombination aus Kommando-und Kontrollschiff, Landefähre und Truppentransporter mit Produktions-und Reparaturanlagen. Mindestens eine Milliarde Tonnen schwer, Durchmesser im Kilometerbereich, zweifellos bis an die Zähne gepanzert und bewaffnet und mit riesigem Geleitschutz, aber auch ein erstklassiges Ziel, die Königsfigur im Spiel. Wenn es gelänge, dieses Monstrum in einen Kampf zu verwickeln und zu zerstören oder zumindest außer Gefecht zu setzen oder zu kapern, könnte die ganze Invasion zusammenbrechen. Selbst wenn die Invasoren und potenziellen Besatzer nur eine ausreichend starke Front von Bewacherschiffen abstellen mussten, um diesen dicken Pott vor einem ernst gemeinten Angriff zu schützen, würde das ihre Kapazitäten erheblich belasten und ihre Dispositionsmöglichkeiten einschränken. Manöver wie Aufspaltung und Neuformierung des Verbandes wären nur noch in drastisch reduziertem Umfang denkbar.