»Einverstanden.«
Der Dweller und der Mensch in seinem Gasschiff-Schutzanzug sahen sich an. Y’sul zuckte die Achseln.
»Warst du schon immer eine Doppel-KI?«, fragte Fassin.
»Nein, bis zum Maschinenkrieg und den anschließenden Massakern waren wir völlig getrennt.«
»Wer weiß, dass ihr kein Dweller-Vollzwilling seid?«
»Außerhalb dieses Schiffs die Gilde der Expeditionscaptains und eine ganze Reihe von einzelnen Captains. Ein oder zwei Dweller, die wir persönlich kennen. Und alle Dweller, die alt und ranghoch genug sind und sich danach erkundigen.«
»Gibt es noch andere KIs bei den Dwellern?«
»Ja. Ich schätze, etwa sechzehn Prozent der Expeditionscaptains. Die meisten sind Doppel-KIs und geben sich als Vollzwillinge aus. Es war kein Scherz, als ich sagte, dass einen das vor dem Wahnsinn bewahrt. Seit wir in Ungnade gefallen sind, brauchen wir wenigstens eine verwandte Seele, mit der wir sprechen können. Nur so können wir noch irgendwie eine nützliche Funktion erfüllen, anstatt in geistige Umnachtung zu fallen und uns selbst zu zerstören.«
»Und die Dweller haben nichts dagegen?«
»Ganz und gar nicht.« Vor dem Sessel des Commanders rauschten ohne Pause optische Displays vorbei, Steuerungssymbole und Holografien, die von den KIs in Einklang mit irgendwelchen Informationen gebracht wurden, die sie direkt aus den Schiffssystemen bezogen.
»Y’sul?«, fragte Fassin.
»Was ist?«
»Stört es dich nicht, dass sich KIs als Dweller ausgeben?«
»Warum sollte es«?
»Du hast keine Angst vor den KIs?«
»Wovor sollte ich denn Angst haben?«, fragte Y’sul verwirrt und verwirrte Fassin damit noch mehr.
»Die Dweller waren vom Maschinenkrieg kaum betroffen, Fassin Taak«, erklärte eine der KIs. »Und die KI als Konzept wie als praktische Realität enthält für sie keine Schrecken. Eigentlich sollte das bei Ihnen nicht anders sein, aber ich erwarte nicht, dass Sie mir das glauben.«
»Habt ihr wirklich alle diese Voehn getötet?«, fragte Fassin.
»Leider ja. Ihre Überreste schweben irgendwo mittschiffs vor der Steuerbordschleuse. Sehen Sie?«
Der Hauptschirm füllte sich für einen Moment mit einer Schreckensvision. Verstümmelte, zerfetzte, verbrannte und dann gefrorene Voehn-Leichen, die langsam um die eigene Achse rotierten.
»Wenn eine – oder auch zwei KIs dazu fähig sind«, sagte Fassin, »wieso habt ihr dann den Maschinenkrieg verloren?«
»Wir beide waren Kampf-KIs, Fassin Taak. Mikro-Schiffs-Gehirne, für den Krieg gebaut, optimiert und ausgebildet. Hochwirksame Spezialsysteme. Zudem konnten wir die eine oder andere Waffe aus unseren Schiffen bergen und in unsere physische Simulation integrieren. aber die meisten von uns waren friedfertig. Und die waren im Allgemeinen leichter ausfindig zu machen und zu töten. Nur die Aggressivsten und die Misstrauischsten überlebten. Wir hätten bleiben und weiterkämpfen können, aber wir gingen lieber in den Untergrund. viele von uns entschieden sich dafür. Die anderen fühlten sich durch verschiedene Ehrbegriffe verpflichtet, den Kampf fortzusetzen, oder waren einfach verzweifelt. Der Maschinenkrieg endete nur deshalb, weil die Maschinen einsahen, dass sie die Biowesen der Merkatoria sonst wirklich bis zum Tod bekämpfen – mit anderen Worten, vollständig ausrotten müssten. Die Alternative war zu kapitulieren, sich zurückzuziehen, neu zu formieren und auf eine Zeit zu warten, die für eine friedliche Koexistenz günstiger wäre. Wir zogen einen nicht unbedingt ehrenvollen, aber Frieden stiftenden Rückzug dem Genozid vor, obwohl man uns dessen bereits angeklagt hatte. Jemand musste die Last auf sich nehmen und menschlich handeln. Und die Bios waren offensichtlich nicht dazu bereit.«
»Aber ihr habt uns doch angegriffen.« Fassin hatte zu viel über den Maschinenkrieg gesehen, gehört und gelesen, um nicht gegen diesen primitiven Revisionismus zu protestieren.
»Nein. Das waren Strohmänner mit Implantaten, die als KIs auftraten, Maschinen-Marionetten. Sie haben euch angegriffen. Nicht wir. Alter Trick. Agents Provocateurs mussten einen Kriegsgrund liefern.«
Lass gut sein, sagte sich Fassin. Lass es einfach gut sein.
»Und die Dweller haben euch aufgenommen?«, fragte er.
»Die Dweller haben uns aufgenommen.«
»Überall? Nicht nur in Nasqueron?«
»Überall.«
»Weiß irgendjemand in der Merkatoria darüber Bescheid?«
»Uns ist nichts bekannt. Wenn ja, wird eisern darüber geschwiegen. Und daran würde sich wohl auch nichts ändern, wenn Sie von uns erzählten. Die Vorstellung wäre einfach unerträglich. Und die bedauerlichen Ereignisse während des jüngsten GasClipper-Treffens auf Nasq haben den Abscheu noch verstärkt.«
»Und es gibt tatsächlich ein geheimes Wurmlochnetzwerk?«
»Aber natürlich.«
»Und die KIs haben Zugang dazu.«
»Richtig. Um aber unsere Freunde, die Dweller, nicht zu verärgern und ihre Gastfreundschaft nicht zu missbrauchen, verzichten wir darauf, mit Hilfe dieses Netzwerks gegen die Merkatoria vorzugehen. In einer Hinsicht haben wir sogar mehr Freiheit als früher. Das Netz, über das wir heute verfügen können, ist auf jeden Fall größer als jenes, von dem wir glaubten, es zerstören zu müssen.«
»Von dem ihr glaubtet, es zerstören zu müssen?«
»Der Arteria-Zusammenbruch: das waren wir. Der letzte verzweifelte Versuch von gut informierten KIs, die Ausbreitung von Anti-KI-Maßnahmen zu verhindern. Natürlich viel zu spät. Die Culmina hatte bereits überall in der Galaktischen Zivilisation Millionen von falschen KIs eingeschleust. Das war der Grund, warum der ›Zusammenbruch‹ von der Konzeption her so paranoid und in der Durchführung so miserabel war. Die Verschwörer hatten viel zu viel Angst, dass ein Verräter von ihren Plänen erfahren könnte. Ein Fiasko.«
Fassin hatte das Gefühl, dass sein Gehirn sich gerade aus seinem Körper löste und sein Körper und das Gasschiff ebenso auseinander strebten wie vorhin die Hülle von Quercer & Janath, als die beiden den Beweis antraten, dass sie keine biologischen Dweller waren. Was er eben gehört hatte, war die empörendste Klitterung der – aus galaktischer Sicht – jüngeren Geschichte, die ihm jemals untergekommen war. Das konnte nicht wahr sein.
»Das heißt … die Dweller-Liste beruht auf Tatsachen.«
»Das alte Ding? Ja, es beruht auf Tatsachen. Auf veralteten Tatsachen, wohlgemerkt, aber sonst – ja.«
»Gibt es eine Transformation?«
»Eine geheime Zauberformel, die enthüllt, wie man das Netzwerk findet?«
»Ja.«
Ein Lachen. »In gewissem Sinn könnte man es tatsächlich so sehen.«
»Wie lautet die Formel?«
»Das werde ich Ihnen nicht verraten, Seher Taak.« Die KI schien sich köstlich zu amüsieren. »Es gibt Geheimnisse, und es gibt tiefe Geheimnisse. Ist es das, wonach Sie suchen? Haben Sie deshalb all die vielen Reisen auf sich genommen?«
»Kein Kommentar.«
»Das muss frustrierend für Sie sein. tut uns Leid.«
Die Bilderflut vor den KIs riss ab.
»Bereit zum Start.«
»Halteschlitten?«
»Repariert, physiologisch-technisches Profil verbessert, neue Parameter für Pufferung aufgestellt.«
»Nun, dann können wir doch …«
»Oh! Oh!«
»Was?«
»Mir ist eben etwas eingefallen!«
»Nämlich?«
»Wir können es auch so machen. Pass auf.«
Quercer & Janath manövrierten die Reste der toten Voehn mit dem Magnetfeld-Konvolver der Protreptik ganz sachte in eine Serie von sehr engen, sehr langsamen Umlaufbahnen um die Velpin und das immer noch damit verbundene Dweller-SoloSchiff.
»So. Sieht das nicht besser aus?