»Verrückt wie ein Ghul«, klagte Y’sul. »Ich bin schwer verletzt. Bringt mich nach Hause.«
»Mann, das ging aber schnell; sieh doch nur!«
»Sie sind gut. Ich dachte, sie würden viel länger brauchen, um die Schiffsautomatik zu überbrücken.«
Ein Bildschirm zeigte in Großaufnahme eine Schleusentür, die sich plötzlich im Rumpf der Velpin geöffnet hatte. In der Öffnung erschien ein Voehn-Soldat, der eine Handwaffe hob und auf die Protreptik zu schießen begann. Auf einem zweiten Bildschirm war zu sehen, wie die reaktiven Chaos-Panzer-Felder den Strahl absorbierten. Ein Blasrohr gegen ein Schlachtschiff.
»Wenn wir starten wollen, wird es Zeit.«
»Wir brauchen unbedingt irgendein Ziel. Ich sage, wir schießen auf diesen Klugscheißer mit der Handwaffe.«
»Nein.«
»Nun komm schon!«
»Man sollte sich nie auf Software verlassen.« (Beide Hälften von Quercer & Janath lachten schallend über diesen Witz.) »Schieß lieber auf die Haupttriebwerke der Velpin.«
»Das klingt schon besser! Im Visier. Feuer.« Vom Schiff kam ein kurzes Summen.
Auf mehreren Bildschirmen einschließlich des Hauptschirms vor den Flossersitzen flammte die Velpin um die Triebwerksgondeln auf und durchlief das Spektrum von grellem Pink bis Sternenweiß. Dann brach das Schiff entzwei, und die Teile trieben in einer Wolke aus glitzernden Metalltrümmern auseinander. »Ups!«
»Ach, das sind doch Voehn. Wahrscheinlich haben sie es in einer Stunde wieder zusammengeflickt und jagen hinter dem Nekro-Schiff her, um es zu entern. Los jetzt!«
Die Zwillings-KI drehte sich um und sah den Dweller und den Menschen im Gasschiff an.
»Wir legen Ihnen jetzt die Sitzgurte an. Schreien Sie, wenn etwas nicht stimmt.«
Die großen ›Finger‹ an den Sitzen begannen zu jaulen. Fassin spürte, dass das Gas sich wie Sirup verdichtete.
»Alles klar?«
Die beiden bestätigten es.
»Und es geht los!«
Die Sterne begannen sich zu drehen, das Summen wurde tiefer und lauter, dann machte das Schiff einen Satz. Die Trümmer der Velpin verschwanden.
Quercer & Janath steuerten das gestohlene Nadelschiff durch das Riesen-O des Nekro-Schiffs, nur um zu zeigen, was sie konnten, und ignorierten die melancholisch-vorwurfsvollen Signale, die ihnen die Ythyn auf dem Weg ins Direaliete-System und zu seinem geheimen Wurmloch hinterherschickten.
Wer ein Ultimatum erwartet hatte, eine Aufforderung zur Kapitulation, wenn auch noch so demütigend, so verächtlich formuliert, dass man nur ablehnen konnte, der wurde enttäuscht. Die Hungerleider-Invasion brach über das Ulubis-System herein wie ein Tsunami über einen Strand voller Sandburgen.
Captain Oon Dicogra, seit kurzem Commander des Nadelschiffs NMS 3304, das Fassin Taak mehr als ein halbes Jahr zuvor von ’glantine nach Sepekte gebracht hatte – sie war befördert worden, als der damalige Befehlshaber, die Whule Pasisa, ein neueres Schiff bekam – gehörte mit ihrem neu bewaffneten Schiff zu den Geschwadern des Äußeren Verteidigungsschilds von Ulubis. Das hörte sich eindrucksvoller an, als es war. Tatsächlich hatte man ein Sammelsurium von zumeist kleinen und unterbewaffneten Schiffen ungefähr in die Richtung, aus der die Invasionsstreitmacht erwartet wurde, an die Randzonen des Systems geschickt, hinter einer allzu dünnen Wolke aus fein verteiltem Schutt und ein paar vorwiegend stationären Minen, die großspurig als Abfangmaterial bezeichnet wurde. Hinter dieser ersten Verteidigungslinie, auch Ringmauer genannt, sollten sie den Feind erwarten.
Dicogra war wie – zumindest in diesem Stadium noch – viele andere Captains der Meinung, man sollte den Invasoren lieber entgegenziehen, anstatt hier zu sitzen und auf sie zu warten, aber die Lamettaträger wollten es anders. Sie lehnten Angriffe auf die Invasionsflotte außerhalb des Systems als verlustreiche Ablenkungsmanöver mit viel zu hohem Risiko ab. Dicogra fand es viel riskanter, hier auf der Vormarschlinie zu hocken, aber sie sagte sich immer wieder, ihre Vorgesetzten wüssten schon, was sie täten. Selbst wenn sie nur geopfert werden sollte, wäre das Opfer nicht vergebens.
Das Geschwader bestand aus zwölf Schiffen und lag eine halbe Million Kilometer jenseits des letzten Orbits des äußeren Systems. Dort war es in einer mehrere tausend Kilometer langen Wellenlinie auf dem taktischen Kurs postiert, den man für einige Teile der Invasionsflotte hochgerechnet hatte. Weitere ähnlich dünn besetzte Linien erstreckten sich nach mehr oder weniger allen Seiten, nur nicht nach vorne. Die NMS 3304 war in der Schlachtordnung des Geschwaders an siebter Stelle neben dem Schiff des Geschwaderkommandanten im Zentrum der Linie platziert. Dicogra stand in der Kommandohierarchie an dritter Stelle nach dem Captain des Schiffes, das sich auf Position fünf in der Linie befand. Sie war anfangs so naiv gewesen, sich von der schnellen Beförderung geschmeichelt zu fühlen. Doch nun bekam sie es mit der Angst zu tun. Die Ausrüstung war unzureichend und die Bewaffnung dürftig, die Schiffe waren zu langsam und es waren viel zu wenige. Das ganze Geschwader war nicht viel mehr als ein Bauernopfer, das man den Invasionstruppen in den Weg stellte, um zu zeigen, dass die Streitkräfte von Ulubis zum Widerstand entschlossen waren, auch wenn die Mittel angesichts der Übermacht des Hungerleider-Kults eher kümmerlich wirkten.
Die weltraumgestützten Ortungssysteme, mit denen sich die Geschwader des Äußeren Verteidigungsschilds besser hätten dirigieren lassen, waren in den letzten Monaten bevorzugt zur Zielscheibe von Angriffen der Beyonder-und Hungerleider-Streitkräfte geworden. Nun waren die meisten zerstört, und die verbliebenen hatten die anrückende Flotte fast völlig aus dem Blick verloren, als alle Einheiten ihre Triebwerke abgeschaltet und nicht weit innerhalb der Oort’schen Wolke ein Sprengmanöver ausgeführt hatten. Dabei hatten mehr als tausend Schiffe buchstäblich im gleichen Augenblick ihre Schubdüsen gezündet, um dann einen jeweils eigenen Kurs zu verfolgen und in einem komplizierten Netz von Richtungen und Vektoren, dem niemand mehr zu folgen vermochte, effektiv zu verschwinden.
Die passiven Langstrecken-Warnsysteme, die noch funktionierten, suchten in der Zeit, die ihnen noch blieb, hoffnungsvoll nach verdeckten fernen Sternen, d. h., sie beschränkten sich darauf, das Netzwerk der feindlichen Schiffe dadurch auszumachen, indem sie feststellten, wo diese dem natürlichen Sonnenlicht den Weg versperrten.
Dicogra lag zusammengerollt in einer der Kommandokapseln. Sie war voll mit dem Schiff synchronisiert und hatte ihre Sinne überall. Zu beiden Seiten nahm sie schwach die anderen Mitglieder ihrer Besatzung wahr. Das kleine Schiff brauchte nur eine dreiköpfige Mannschaft, ansonsten lief es automatisch. Die beiden anderen waren ein Whule und ein Jajuejein, beides Neulinge, nicht nur, was sie und das Schiff anging, sondern auch erst seit kurzem in der Navarchie. Sie befanden sich noch in der Lernphase, und ihre Unwissenheit war für Dicogra befremdlicher als die speziesbedingten Unterschiede. Um die beiden auch nur halbwegs als einsatzfähig zu bezeichnen, hätte sie sich ein mehrmonatiges intensives gemeinsames Training gewünscht, aber daran war in diesen Krisenzeiten nicht zu denken.
Ein paar Lichtsekunden weiter vorne blitzte starke, langwellige Strahlung auf, ein Zeichen dafür, dass etwas – genauer gesagt viele Einzelobjekte – in die Wolke aus Abfangmaterial zwischen der Verteidigungslinie und den Invasoren geraten war, ohne dass es zu größeren Kollisionen gekommen wäre.
»Eine Ladung feindlicher Scheiße und eine Ladung unserer Scheiße treffen aufeinander«, meldete Dicogras Geschwaderführer über die optische Richtfunkverbindung.
Die Kollisionswarnung ihres eigenen Schiffes begann zu piepsen und zu blinken. Nutche, ihr Erster Offizier, war dafür zuständig. Sie verfolgte mit halbem Auge seine Versuche, die Automatik zu überwachen und auf das Ziel zu fixieren. Auf allen Seiten flitzten kollidierende Teilchen wie winzige Granatsplitter mit fast Lichtgeschwindigkeit an ihnen vorbei. Wir können nichts tun, es gibt nichts anzugreifen, dachte sie. Wir können nur hier sitzen und abwarten. Der fein verteilte Funkenregen verdichtete sich zu einem hellen Glitzerband und legte sich wie ein Lichtervorhang über ihr vorderes Sichtfeld.