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Jaal beugte sich zu ihrem jüngeren Bruder, der mit untergeschlagenen Beinen neben ihr auf dem Boden saß. »Sie werden uns nie die Wahrheit sagen, nicht wahr?«, fragte sie leise.

Leax, ein magerer, schlaksiger Junge, der eben seinen hoffentlich letzten Wachstumsschub hinter sich hatte, sah sie peinlich berührt an. »Du solltest nicht so reden. wir sitzen alle in einem Boot, wir müssen einander unterstützen.«

»Du hast natürlich Recht.« Jaal klopfte ihm auf die Schulter und spürte, wie er sich unter ihrer Berührung versteifte. Die Zeit der Balgereien und Kitzelorgien war vorbei. Wahrscheinlich würde er auch über dieses Stadium mit seiner Schüchternheit und Verwirrung bald hinauswachsen. Sie wollte ihm Mut machen und hätte ihm fast noch einmal auf die Schulter geklopft, hielt sich dann aber zurück.

Jetzt flimmerte eine Kurzdokumentation über die großartige Moral auf dem Schlachtkreuzer Caronnade über den Bildschirm.

»Kommt ihr euch auch so nutzlos vor?«, fragte Jaals Onkel Ghevi. Er war um die vierzig, sah aber älter aus, gar nicht so einfach in einer Zeit, in der Achtzigjährige wie fünfzehn aussehen konnten, wenn sie genügend Geld hatten. »Man wäre so gern da draußen und würde irgendetwas tun.«

»Zum Beispiel kapitulieren«, bemerkte Jaals Vater. Empörtes Zungenschnalzen und Zischen, Leax schnappte erschrocken nach Luft. Jaals Vater ging sofort in die Defensive. »Ist doch wahr«, sagte er. Er betrachtete den Krieg seit dem Anschlag auf Third Fury zunehmend zynischer. Auch er war Seher und wäre wenige Wochen nach dem Angriff auf dem Mond für eine Serie von Trips in Nasqueron eingeteilt gewesen. Durch die Zerstörung der Gemeinschaftsanlage und die immer hektischeren Kriegsvorbereitungen lag sein Einsatz nun auf Eis. Man hatte ihn nicht einmal als Berater für die Dweller-Abordnung ausgewählt.

Jaal lächelte zu ihm hinüber. Er war immer noch ihr geliebter Papa, groß und kräftig, mit blondem Haar. Er lächelte unsicher zurück.

»Moderne Kriege«, sagte Ghevi, »werden auch ohne KIs vor allem von Maschinen und wenigen gut ausgebildeten Spezialisten geführt. wir können dabei nicht allzu viel tun.« Die meisten Männer nickten verständnisinnig. Der Bildschirm zeigte längst bekannte Archivbilder, auf denen die Carronnade mit Strahlenwaffen auf eine Gruppe von Asteroiden schoss und sie in Staub verwandelte.

»Entschuldigt mich bitte«, sagte Jaal und verließ den Raum. Mit einem Mal konnte sie die Hitze, die Enge nicht mehr ertragen. Sie stieg die Treppe hinauf und trat auf den Balkon vor dem Wohnzimmer, wo sie unter normalen Umständen alle gesessen und sich gemeinsam die Nachrichten angesehen hätten.

Als das Licht vom Himmel verschwand, leuchteten in der weitläufigen Stadt und den umliegenden Dörfern und Häusern die ersten Straßenlaternen auf. Einige Städte, besonders auf Sepekte, hatten Verdunklung angeordnet, obwohl alle Welt sagte, das hätte keinen Sinn.

Die Luft war kalt und feucht, es roch nach Wald. Jaal fröstelte in ihren dünnen Kleidern. Plötzlich musste sie an Fassin denken. Sie hatte in letzter Zeit öfter ein schlechtes Gewissen, weil manchmal ein ganzer Tag verging, ohne dass sie auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet hätte. Sie kam sich treulos vor. Nun fragte sie sich, wo er war, ob er noch lebte, und ob er wohl gelegentlich an sie dachte.

Sie schaute über die Stadt hinweg. Die Hänge gegenüber waren mit Lichtern übersät, über den Bäumen zeichneten sich vor dem violetten Himmel deutlich die schneebedeckten Gipfel der Berge ab. Darüber leuchteten die Sterne, und zwischen beiden funkelten viele kleine blinkende Lichter, als hätte man Glitzerkonfetti verstreut.

Sie senkte den Blick und kehrte, von namenloser Angst ergriffen, ins Haus zurück. Angenommen, eines dieser kleinen Lichter wäre eine Atom-oder Antimaterieexplosion und würde im nächsten Moment zu einer grellen, blendenden Kugel anschwellen?

Jetzt fürchtest du dich schon vor dem Himmel und wagst nicht einmal mehr, nach oben zu schauen, dachte sie und ging wieder hinunter zu den anderen.

Flottenadmiral Brimiaice hatte seinen eigenen Tod, den Tod seiner Besatzung und die Zerstörung seines Schiffes in Zeitlupe und in allen Einzelheiten mit ansehen können.

Alarmsirenen schrillten, und es rauschte wie ein heftiger Sturm. Zunächst war das Blickfeld des vorderen Hauptbildschirms von Rauch getrübt gewesen, doch jetzt war die Sicht klar. Trümmer füllten etwa ein Viertel des Kommandodecks, zum Teil waren sie noch so heiß, dass sie knisterten und knackten. Überall lagen abgetrennte Gliedmaßen und Fleischfetzen verschiedenster Spezies herum. Der Admiral sah sich in dem großen sphärischen Raum um, so gut er konnte. Er hatte unten an der linken Flanke eine schwere Stichwunde, die so tief war, dass sein Blutsaft sie nicht abdichten konnte. Der gepanzerte Schutzanzug, in dem er einem kleinen Raumschiff zum Verwechseln ähnlich sah, hatte ihm das Leben gerettet oder zumindest seinen Tod hinausgezögert.

Zisch, machte die Luft ringsum.

Es geht mir wie dem Schiff, dachte er. Ich bin angestochen, die Selbstabdichtung ist überfordert, mein Leben verrinnt. Er suchte auf dem Kommandodeck nach irgendeiner lebenden Seele, aber er fand nur Leichen.

Natürlich hätten sie in den Kapseln liegen sollen, aber bei den Schockgel-Kapseln waren in letzter Minute Störungen aufgetreten  – vielleicht durch Sabotage, vielleicht aus anderen Gründen – und so hatte die Kommandobesatzung notgedrungen liegend, sitzend oder schwebend in den Beschleunigungssesseln ausgeharrt. Es wäre ohnehin ein ziemlich aussichtsloser Kampf geworden, aber da die Einschränkungen in der Manövrierfähigkeit noch größer waren als sonst, war die Lage vollends verzweifelt.

Die Invasionsflotte war bereits tief ins innere System vorgedrungen. Der deutlichste Beweis dafür war die mächtige, weit auseinander gezogene Schar von gekrümmten Filamenten auf dem Hauptbildschirm der Carronade. Die feindlichen Schiffe selbst waren zumeist noch unsichtbar, der Handel mit Tod und Zerstörung zwischen ihnen und den Verteidigern spielte sich auf Entfernungen von selten weniger als zehntausend und manchmal Millionen von Kilometern ab.

Die Invasoren oder ihre Verbündeten, die Beyonder, hatten längst die meisten Langstreckensensoren außer Gefecht gesetzt. Den Verteidigern blieben nur noch bessere Teleskope, mit denen die Angreifer, getarnte Schiffe und winzige, aber schnelle Kleingeschosse, kaum rechtzeitig zu erkennen waren. Für den Flottenadmiral war das eine unerträgliche Schmach. Die Schlacht und das eigene Leben zu verlieren war schrecklich genug, aber abgeknallt zu werden, ohne genau sehen zu können, wovon oder von wem, war irgendwie noch schlimmer.

Aus dem dunklen Himmel waren, abgeschossen von fernen Raumkreuzern verschiedenster Bauart, näher postierten kleineren Schiffen, unbemannten Plattformen, Kampfvehikeln und bewaffneten Drohnen, Raketen mit Atom-und Antimaterie-Sprengköpfen, hyperschnelle Granaten und Energiestrahlen, Hagelwolken aus nahezu lichtschneller Mikromunition, Strahlen aus Hochenergielasern und einem Dutzend anderer Geschütze und Tochtergeschosse von Clusterbomben auf sie zugerast.

Die Carronade und ihre aus zwölf Zerstörern bestehende Eskorte waren eine ansehnliche Flotte gewesen. Sie hatten den Auftrag erhalten, einen kühnen Angriff ins Herz der feindlichen Flotte zu fliegen und geradewegs das Megaschiff anzusteuern, das nach Aussage der Taktiker deren Kern bildete. Daraufhin hatten sie das innere System Wochen vor dem Eintreffen der Invasoren verlassen, waren heimlich von ihrem Werftzentrum im Sepekte-Orbit gestartet und weit über die Ebene des Sonnensystems aufgestiegen. Um ihre Triebwerkssignaturen vor den Invasoren verborgen zu halten, hatten sie sich für diesen Teil der Reise viel länger Zeit gelassen, als eigentlich nötig gewesen wäre. Sobald sie unterwegs waren, hatten sie so lange auf jegliche Kommunikation – auch untereinander  – verzichtet, bis der vorderste Zerstörer den Kern der feindlichen Flotte lokalisiert hatte.