Ein letztes Mal schaute Inesiji im Schein der untergehenden Sonne zu dem Loch in der gigantischen Fassade des Kugelpalastes empor, stemmte sich langsam hoch, um zu sehen, wo das Exoskelett war, und wurde von Laserstrahlen durchbohrt, die aus hundert Meter Höhe wie Lanzen von einer Geschützplattform herabfuhren.
Das große Glitzerschiff mit seiner Haut aus Gold und Platin hatte einen Durchmesser von einem halben Kilometer und war wie eine etwas kleinere – und mobile – Ausgabe des Hierchon-Palasts in Borquille gestaltet. Langsam wie ein glänzendes Samenkorn sank es durch die oberste Dunstschicht und die Wolken darunter. Die kleinen pfeilförmigen Geleitschiffe umschwirrten es wie ein Insektenschwarm.
Einen Kilometer entfernt stieg ein silbrig schimmernder Panzerkreuzer von unten aus den Wolken und verharrte. Das goldene Schiff sank langsam weiter und hielt auf gleicher Höhe mit ihm an.
Der Silberkreuzer schickte eine Aufforderung an das goldene Schiff, sich zu identifizieren.
Die Besatzung des Dweller-Schiffs vernahm eine offensichtlich synthetische, aber dennoch machtbewusste Stimme: »Ich bin der Hierchon Ormilla, Herrscher der Merkatoria von Ulubis und Oberhaupt der merkatorialen Exilregierung des Ulubis-Systems. Dies ist mein Schiff, die Staatsbarkasse Creumel. Ich bitte für mich selbst, meine Dienerschaft und meine Familie um Aufnahme und vorübergehendes Asyl.«
»Willkommen in Nasqueron, Hierchon Ormilla.«
»Wirst du anständig behandelt, Sal?«
Liss besuchte Saluus in seiner Zelle in den Tiefen der Lusiferus VII. Sie stand hinter einer dünnen, zähen, durchsichtigen Membran, die sich wie eine Blase von der Tür in die Zelle wölbte. Sal saß an einem kleinen, aus der Wand modellierten Schreibtisch vor einem Bildschirm und las.
»Ich kann mich nicht beklagen«, sagte er. Durch die Membran hörte jeder die Stimme des anderen wie aus weiter Ferne. Sal stand auf. »Und wie steht’s bei dir?«
»Bei mir? Ich bin ein verdammter Held, Sal.« Sie zuckte die Achseln. »Eine Heldin, um genau zu sein.« Sie nickte zum Bildschirm hin. »Was machst du da?«
»Ich informiere mich über die ruhmreiche Geschichte des Hungerleider-Kults unter seinem erhabenen Führer, dem Archimandriten Lusiferus.«
»Aha.«
»Sag mir, dass das nicht alles geplant war, Liss.
»Es war nicht alles geplant, Saluus.«
»Ist Liss dein echter Name?«
»Was ist schon echt?«
»Sie war doch nicht geplant, oder? Meine Entführung, meine ich.«
»Natürlich nicht.« Liss ließ sich auf einen kleinen Sitz fallen, der neben der Tür aus der Wand ausgeformt war. »Spontane Idee.«
Sal wartete auf weitere Ausführungen, aber die kamen nicht. Liss lümmelte nur da und sah ihn an. »Ich habe dich wohl selbst darauf gebracht?«, fragte er. »Als ich dir erzählte, dass Thovin mir praktisch vorgeworfen hätte, ich machte mich zur Flucht bereit.«
»Ich hatte schon länger daran gedacht, dich nutzbringend einzusetzen«, gestand sie. »Aber dann war es eine Augenblicksentscheidung. Wir waren auf dem Schiff, es war startklar, ich hatte dir beim Steuern zugesehen und wusste, dass es nicht schwierig war.« Liss zuckte die Achseln. »Das Militär hätte es nur beschlagnahmt, einen Sprengkopf hineingepackt und es als Rakete verwendet.«
»Und etwas Besseres ist dir wirklich nicht eingefallen?«
»Vielleicht wäre mehr drin gewesen, aber ich glaubte nicht daran. Ich wollte dich einfach aus der Gleichung herausnehmen, um alle aus der Fassung zu bringen. Ein moralischer Schlag. Es sollte so aussehen, als wärst du zu den Invasoren übergelaufen. Und es hat ja auch geklappt. Die Verwirrung war perfekt.«
»Du hast also die Gelegenheit beim Schopf ergriffen.«
»Ich bin ein Beyonder. Wir werden zu selbständigem Denken erzogen.«
»Du hattest es also schon immer auf mich abgesehen? War ich so etwas wie deine Zielperson«?
»Nein. Auch hier eine Frage der Gelegenheit. Ein Glücksfall.«
»Und Fassin?«
»Ein nützlicher Idiot. Für ernsthafte Spionagearbeit nicht zu gebrauchen, aber ein Kontakt, den zu halten sich lohnte. Schon dass er mich zu dir geführt hat, rechtfertigte den Aufwand. Wahrscheinlich ist er inzwischen tot, aber man weiß ja nie. Offiziell ist er immer noch in Nasq verschollen.«
»Was tut sich so? Im System, meine ich. Der Krieg hat doch inzwischen begonnen? Hier sagt mir niemand etwas, und über den Bildschirm habe ich nur Zugriff auf Bibliotheksmaterial.«
»Oh ja, der Krieg hat begonnen.«
»Und?«
Liss schüttelte den Kopf und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Mannomann! Du meinst die Schiffe, die du gebaut hast? Die kriegen gewaltig eins übergebraten. Alles sehr unausgewogen. Das Gerede von Kampf bis zum letzten Schiff und so weiter? Letztlich nichts dahinter. Der Krieg im Weltraum ist fast zu Ende. Der Hierchon hat sich abgesetzt.«
»Ist alles nur auf das Militär beschränkt? Oder werden auch Städte oder Habitate angegriffen?« Sal hielt ihren Blick kurz fest, dann schlug er die Augen nieder. »Ich habe eine Menge Freunde dort, Liss.«
»Ich weiß, Saluus, du bist auch nur ein Mensch. Spar dir das Theater.«
Er hob den Kopf und sah sie scharf an, aber ihr Blick war unversöhnlich. Sie trug immer noch den hautengen Schutzanzug, heute in einem Pastellblau, das zu ihren Augen passte. Der dicke Helmkragen umschloss ihren Hals wie eine altmodische Krause, so dass der kleine Kopf mit dem straff nach hinten genommenen dunklen Haar wie auf einem Teller lag. Endlich ließ sie sich doch erweichen. »Borquille ist bisher die einzige Stadt, die erobert wurde«, sagte sie. »Ziemlich blutige Angelegenheit. Aber keine Berichte von besonderen Gräueltaten.«
Mit einem Seufzer lehnte er sich in dem kleinen Sessel vor dem Bildschirm zurück. »Warum arbeitet ihr – ich meine, die Beyonder – mit diesen … diesen Typen zusammen?«
»Um uns Typen wie euch vom Hals zu halten.«
»Typen wie uns? Du meinst die Merkatoria?«
»Natürlich meine ich die Scheiß-Merkatoria.«
»Ist das wirklich der einzige Grund?«
»Je mehr ihr Dreckskerle anderweitig beschäftigt seid, desto weniger Zeit bleibt euch, um uns umzubringen. Eigentlich eine ganz einfache Rechnung, Sal.«
»Wir bekämpfen euch doch nur, weil ihr uns bekämpft.«
Liss sackte noch weiter zusammen, nahm die Beine leicht auseinander und verdrehte die Augen. »Wann lernst du es endlich, Mann?«, hauchte sie. Dann schüttelte sie den Kopf und richtete sich wieder auf. »Nein, Saluus«, sagte sie. »Ihr bekämpft uns, weil wir uns eurer verdammten viel gepriesenen Merkatoria nicht anschließen wollen. Ihr könnt uns nicht in Frieden lassen, aus Angst, dass andere sich ein Beispiel an uns nehmen könnten. Ihr überfallt unsere Habitate und Generationenschiffe und schlachtet uns zu Millionen ab. Wir greifen nur euer Militär und eure Infrastruktur an. Und ihr nennt uns Terroristen.« Sie schüttelte den Kopf und stand auf. »Fahr zur Hölle, Sal«, sagte sie leise. »Fahr zur Hölle mit deiner Arroganz und deinem gedankenlosen Egoismus. Fahr zur Hölle, denn du bist intelligent, aber du bist zu faul, um deinen Verstand zu gebrauchen.« Sie wandte sich zum Gehen.
Sal sprang auf und wäre fast gegen die transparente Membran gerannt. »Hast du jemals etwas für mich empfunden?«, entfuhr es ihm.
Liss blieb stehen, drehte sich um. »Außer Verachtung?« Sie lächelte, als er den Blick abwandte und sich auf die Unterlippe biss. Er konnte nicht sehen, wie sie den Kopf schüttelte. »Manchmal war es ganz lustig, mit dir zusammen zu sein, Sal«, sagte sie und hoffte, dass es nicht zu gönnerhaft klang. Oder gönnerhaft genug.
Sie ging, bevor er etwas erwidern konnte.
Hab 4409 und alle seine Bewohner waren zum Tode verurteilt. Das hatte man ihnen mitgeteilt. Es war schwer zu glauben. Aber vielleicht kam es ja nicht so weit.