Выбрать главу

Die Menschen reagierten verschieden. Einige hatten randaliert und waren kompromisslos oder grausam bestraft worden, die Wortwahl hing davon ab, ob man den Zivilbehörden glaubte oder nicht. Einige betäubten sich mit Rauschmitteln aller Art, andere blieben einfach bei ihren Lieben oder stellten fest, dass sie ihre letzten Stunden durchaus auch mit Personen verbringen konnten, die ihnen lediglich sympathisch waren. Und eine große Zahl von Menschen – mehr als Thay erwartet hätte – hatte sich in dem großen Park an der Innenwand des Habitats gegenüber dem Platz vor dem Diegesianspalast versammelt. Da standen sie nun und hielten sich an den Händen. Lange Reihen, kleine Grüppchen, Leute, die sich im Kreis aufgestellt hatten und die Hände in der Mitte zusammenlegten, und unregelmäßige, mehr oder weniger durch Zufall entstandene Ketten. Von oben, dachte Thay, müssten sie aussehen wie ein abstraktes Bild eines menschlichen Gehirns mit verklumpten Zellen und vielfach verzweigten Dendriten.

Thay Hohuel legte den Kopf in den Nacken und versuchte, hinter den Gondeln, die sich an der Längsachse des Habs zusammendrängten, einen Blick auf den Diegesianspalast und auf den Platz davor zu erhaschen, wo sie und die anderen vor so vielen Jahren ihre Protestdemonstration abgehalten hatten.

Sie war hierher gekommen, um zu sterben, das wurde ihr jetzt bewusst. Sie hatte nur nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde. Sie hatte die anderen nie vergessen, hatte sich nach Kräften bemüht, Kontakt zu ihnen zu halten, auch wenn sie offenbar gar nicht an die alten Tage und ihr altes Ich erinnert werden wollten. Obwohl sie vermieden hatte, sich aufzudrängen, war sie wohl doch unerwünscht gewesen – eine Nervensäge. Aber was man einmal gewesen war, behielt doch seinen Wert, auch wenn man sich davon losgesagt hatte? Das war immer ihre Meinung gewesen, und so dachte sie bis heute.

Sie war also lästig gewesen, weil sie nicht davon abging, sich in Erinnerung zu bringen und damit auch die anderen an ihr früheres Ich zu erinnern und natürlich an die arme tote K, die sie zugleich zusammenhielt und voneinander trennte. Sonst hätten sie sich doch längst wieder getroffen, Mome, Sonj, Fassin und sie selbst? Irgendwo hätte ein Wiedersehen stattgefunden, das wäre nur natürlich gewesen. Jedenfalls, wenn ihnen der Geist von K, den jeder mit sich herumtrug, die Erinnerung an die gemeinsame Zeit nicht für immer vergällt hätte.

Sie war trotz alledem zurückgekehrt, ins Hab, zu ihrem früheren Ich und zu diesen Erinnerungen. Als sie das Gefühl hatte, der Tod mit seiner wohl verdienten Ruhe sei allenfalls noch ein bis zwei Jahre entfernt, hatte sie beschlossen, hierher zu kommen, an den Ort, der in jungen Jahren ihren Charakter geprägt hatte. Der heraufziehende Krieg hatte sie in ihren Plänen noch bestärkt; wenn die Gefahr wirklich so groß war, wie alle behaupteten, wenn die Invasoren alle großen und kleinen Städte, alle Schiffe, Habitate und anderen Gemeinschaftseinrichtungen als legitime Ziele betrachteten, dann wollte sie den Tod dort erwarten, wo er wenigstens irgendeinen Sinn hätte. In diesem Habitat, diesem hohlen Klumpen Asteroidengestein, diesem rotierenden Bezugsrahmen sollte sich der Kreis schließen, sie würde ihre Existenz an dem Ort beenden, der sie zu dem gemacht hatte, was sie war.

Sie war in ihrem Leben so vieles gewesen, hatte ein halbes Dutzend Mal den Beruf gewechselt und sich für immer neue Dinge interessiert und begeistert. Sie hatte zahlreiche Liebhaber gehabt, zwei Ehemänner und zwei Kinder, doch alle waren längst ihre eigenen Wege gegangen, und obwohl sie es als etwas egoistisch empfand, zum Sterben hierher gekommen zu sein, hatte sie doch auch das Gefühl, allen, die sie liebte oder einmal geliebt hatte, damit einen Gefallen zu tun. Wer wollte denn tatsächlich mit ansehen, wie sie dahinsiechte?

Selbst wenn einer behauptete, er wäre am Ende gern bei ihr gewesen, es wäre nicht wirklich die Wahrheit.

Sie war also in das gute alte Happy Hab zurückgekehrt – das leider nicht mehr so fröhlich, so voller Leben oder so unkonventionell war wie früher –, um hier zu sterben. aber sie hatte allein und in Frieden sterben wollen, in ein oder zwei Jahren, nicht zusammen mit so vielen Menschen, durch einen Gewaltakt und nur wenige Monate nach ihrer Ankunft.

Der Hierchon Ormilla befand sich auf Nasqueron im Exil. Der neue Machthaber, dieser Archimandrit Lusiferus, wollte, dass der Hierchon kapitulierte. Der Hierchon weigerte sich. Der Archimandrit wollte sich die Dweller nicht zum Feind machen und wagte nicht, auch Nasqueron kurzerhand zu überfallen oder zu erobern – die Dweller, die alle Welt für exzentrische Chaoten und technische Analphabeten hielt, waren erstaunlich gut imstande, sich ihrer Haut zu wehren – und so herrschte ein Patt. Dieser Lusiferus konnte nicht hinein, und Ormilla kam nicht heraus.

Nun drohte der Archimandrit, jeden Tag eine Stadt oder ein Habitat zu zerstören, bis der Hierchon in aller Form kapitulierte und sich den Besatzungstruppen auslieferte. Und falls Ormilla nicht nach zwei Tagen aufgab, wollte Lusiferus stündlich eine Ansiedlung vernichten.

Gerüchten zufolge war tags zuvor Afynseise zerstört worden, eine kleine Küstenstadt in Poroforo, Sepekte, doch da das Habitat seit drei Tagen unter einer Nachrichtensperre stand, konnte das niemand bestätigen.

Hab 4409 hatte etwa achtzigtausend Einwohner und war damit eines von den kleineren Weltraumhabitaten. Es stand auf der Liste der als Geiseln geeigneten Bevölkerungszentren auf Platz zwei, und das Ultimatum lief in wenigen Minuten um Mitternacht ab. Von Ormilla hatte man nach einem trotzigen Kommuniqué am frühen Nachmittag nichts mehr gehört. Seit vor zwei Tagen das Ultimatum des Archimandriten bekannt gegeben worden war, hatten die Hungerleider in der Nähe ein Kriegsschiff stationiert und nichts und niemandem erlaubt, das Habitat zu verlassen – oder zu betreten. Einige Schiffe, die zu starten versuchten, waren zerstört worden. Alle Bitten, Kinder, Kranke oder die kollaborierenden Zivilbehörden zu evakuieren, waren auf taube Ohren gestoßen. Man hatte sogar erklärt, wer die Zerstörung des Habs in einem Raumanzug oder einem Kleinschiff überlebte, sollte in den Trümmern niedergeschossen werden. niemand bezweifelte, dass der Archimandrit zu seinem Wort stehen, und kaum jemand glaubte, dass der Hierchon so leicht nachgeben würde.

Thay ließ die Hände los, die sie umschlossen hielt – ein welkes Blatt, das von einer Blüte aus vorwiegend jungen und schönen Menschen abfiel –, bückte sich mit schmerzendem Rücken, zog sich die Schuhe aus und stieß sie von sich. Dann legte sie ihre Hand wieder auf die anderen im Zentrum des Kreises. Das Gras unter ihren Füßen war kühl und feucht.

Viele Menschen sangen jetzt, die meisten ganz leise.

Viele verschiedene Lieder.

Einige weinten, andere schluchzten, manche heulten und schrien laut, aber die waren fast alle weit weg.

Und jemand war so makaber, die Sekunden zu zählen.

Dann war es Mitternacht, und Sekunden später fuhr, kaum fünfzig Meter von Thay entfernt, ein mächtiger, blendend heller Lichtstrahl mit lautem Krachen genau ins Zentrum des Habitats. Sie musste die Hände der anderen loslassen, um sie vor die Augen zu halten; alle taten das. ein heißer Wind riss sie von den Beinen und schleuderte sie mit Hunderten von anderen ins Gras. Gleich darauf teilte sich der Strahl, wanderte rasch nach beiden Seiten an den Rand des Habitats, sprengte alle Gebäude auf seiner Bahn, ließ die Gondeln in Flammen aufgehen und zerschnitt die kleine Welt fein säuberlich in zwei Teile. Die Hälften wurden durch den Luftdruck im Innern auseinander gedrückt, und die Atmosphäre entwich in einem Doppelhurrikan aus Gasen, Schutt und Leichen ins All. Zu beiden Seiten explodierten Gebäude und Gondeln, zwei Kreise der Zerstörung breiteten sich aus und wanderten über die Innenflächen der durchtrennten Halbkugeln. Bauwerke wurden allein durch die Kraft der Luft auseinander gerissen, die sich den Weg nach draußen bahnte. thay Hohuel wurde mit allen anderen von dem Wirbelwind erfasst und über den brodelnden Rasen zu der rasch breiter werdenden Bresche gezogen. Es dauerte nur Sekunden, bis sie in die Finsternis geblasen wurde. die Luft wurde ihr aus den Lungen gerissen und ins All gesaugt. Sie hörte sich schreien. Es war ein schriller Schrei, wild und hart, lauter, als sie ihn aus eigener Kraft hätte erzeugen können; Schmerz, Schock und Angst entrissen den Mündern aller anderen diesen schrecklichen Todesgesang, der erst verklang, als die letzte Luft durch ihre Ohren ins Vakuum verströmte.