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»Was für ein Original?«, hörte er sich fragen.

Am anderen Flussufer war eine Stadt aus der Epoche der Verschwendung zu sehen, Gebäude von mittlerer Höhe, Qualm, elektrische Züge und mehrspurige Straßen mit lärmenden Personen-und Lastwagen. Sie mussten die Stimme ein wenig heben, um sich gegen den Krawall durchzusetzen. Ein süßlich öliger Brandgeruch zog über den Fluss.

Der rotbraune Affe stocherte mit einem riesigen Krummschwert in seinen blitzenden Zähnen herum.

»Noch ein Bild?«, fragte der Mann. Er wirkte drahtig und fit, und er war nicht mehr jung. Sein Bart war ziemlich grau. »Lass sehen.«

Diesmal wusste Fassin, was er zu tun hatte. Er zeigte dem Mann das kleine Bildblatt, das einen gelben Himmel mit braunen Wolken zeigte.

»Die Farbe stimmen natürlich nicht«, erklärte er. »Das ist mir sofort aufgefallen.«

»Oh ja, da ist ein Bild. Ich kann es erkennen.«

»Ich weiß, aber was …«

»Und algebraische Formeln, im Basiscode verschlüsselt.«

Bei diesen Worten sauste das lange Krummschwert des Affen auf den Mann nieder und zerteilte ihn vom Hals bis zur Hüfte. Die beiden Hälften rutschten über die Stufen in den Fluss, verwandelten sich in Silber und zappelten davon.

Fassin schaute zu dem großen Affen auf. »He«, sagte er, »das war nur ein …«

»Hältst dich wohl für sehr schlau!«, zischte der Affe und zog das blitzende Schwert zurück.

Fassin erwachte. Er zitterte am ganzen Leib. Er lag in einem Sarg – und hatte sich soeben an der Innenseite des Deckels den Kopf angestoßen. Er wollte blinzeln, aber es ging nicht. Da war etwas in seinen Augen, bedeckte sie, bedeckte ihn ganz und gar, füllte den Mund, die Nase, den Anus …

Schockgel, Kiemenwasser, das Gasschiff. Verdammt, reiß dich zusammen, befahl er sich. Wie lange bist du jetzt schon Seher?

Die Protreptik, das ehemalige Voehn-Schiff war über das Diraliete-System auf dem Weg nach Nasqueron, Ulubis. Sie stand jetzt unter dem Kommando des Vollzwillings Quercer & Janath, Piraten, Nahkampfspezialisten und Voehn-Killer und nach eigenem Eingeständnis eine KI.

Sie flogen mit mäßiger Bremsbeschleunigung wieder ins System ein und steuerten auf das geheime Wurmloch zu.

Der Traum löste sich allmählich auf, die Fische glitten in Sinuskurven durch das Wasser, als winkten sie ihm zum Abschied zu. Dennoch glaubte er, etwas begriffen zu haben. Was war es gewesen?

Er war verwirrt.

Es hatte mit Saluus zu tun. Und war nicht auch Hatherence dabei gewesen? Zuerst Sals Haus, nur in einem Vulkan, dann die virtuelle Umgebung, in der er das Schiff getroffen hatte, und das Schiff hatte sich das …

Fassin lag im Schockgel wie in einer Konservierungsflüssigkeit. Seine Augen wurden groß, er spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Sein Herz krampfte sich zusammen und begann wild und unregelmäßig zu schlagen.

Er könnte es selbst tun. Er könnte warten, bis sie zurückkehrten, zurück nach Ulubis, nach Nasq, und es jemandem zeigen  – wenn er Valseir fände, könnte er ihn einfach fragen, auch wenn er nicht glaubte, dass er Valseir finden würde –, aber damit war er nicht zufrieden. Er musste es wissen.

Er hatte das Bildblatt in den Speicher des Gasschiffs übertragen und rief jetzt, während er im Innern des kleinen Pfeilschiffs im Schockgel lag, die Fotografie auf. Sie schwebte vor seinem Blick. Der blaue Himmel und die weißen Wolken erschienen ihm ungewohnt, fast fremd, irgendwie unnatürlich und doch auch vertraut, und versetzten ihn in eine Stimmung zwischen Melancholie und Heimweh.

Er vergrößerte das Bild, bis er nur noch abstrakte Farbwürfel sah. Dann tastete er die ganze Fläche nach kleineren Bildern ab, fand aber nichts. Schließlich wendete er verschiedene im Biobewusstein des Gasschiffs gespeicherte Routinen zur Mustererkennung in scheinbar zufälligen Daten an. Hatte er das Bild detailliert genug aufgezeichnet, um etwas zu finden, was darin verborgen sein könnte? Wären die versteckten Daten, falls sie denn vorhanden waren, ohne einen weiteren Code überhaupt auffindbar?

Er wünschte, er könnte auf das Original zugreifen, das in einem winzigen Fach an der Außenseite des Gasschiffs verwahrt war, aber das war nicht möglich, nicht, solange dieser Druck auf ihm lastete. Außerdem könnten Quercer & Janath misstrauisch werden, wenn er sich das Bildblatt allzu genau betrachtete. Denn hier könnte die Antwort liegen, hier könnte sie – nur vielleicht, unter Umständen – die ganze Zeit gelegen haben.

»… Das Original dieser Mappe brachte ich persönlich in einem verschlossenen Behälter zu einem befreundeten Sammler in der Stadt Deilte in der Südlichen Polarregion …« So oder so ähnlich hatte Valseir sich ausgedrückt.

Fassin hatte das Gespräch wortwörtlich aufgezeichnet und im Speicher des Gasschiffs abgelegt, aber der war an Bord der Isaut gelöscht worden. Das spielte keine Rolle; er hatte ein zuverlässiges Gedächtnis für Details. Damals hatte er den tieferen Sinn von Valseirs Bemerkung nicht erfasst – wenig später hatte der Angriff der Merkatoria auf die Schiffe in der Sturmflotte begonnen, und danach ging alles drunter und drüber –, aber jetzt verstand er, dass es wahrscheinlich eine Kopie gab. Valseir war Forscher und achtete auf eine präzise Terminologie, wenn es um Editionen und ihre Rangordnung ging. Er hätte nicht von einem Original gesprochen, wenn er keinen Anlass gehabt hätte, es von einer Kopie zu unterscheiden. Es gab also eine Kopie. Es gab ein Backup, und es hatte dem alten Dweller ein diebisches Vergnügen bereitet, es Fassin die ganze Zeit mit sich herumtragen zu lassen.

Das klang zumindest einigermaßen plausibel.

Fassin traute Valseir ein solches Verhalten durchaus zu, aber er hatte sich in dem alten Dweller schon einmal getäuscht. Dweller entwickelten in ihrem langen Leben oft starre Gewohnheiten, die sie berechenbar machten, aber manchmal wurden sie dadurch auch hinterhältiger. Er schlief ein, während vor ihm die Routinen weiterliefen, und träumte von Zahlenströmen, einem Algebrafluss aus Gleichungen und Termen, die sich manchmal zu einem Ganzen zu fügen schienen, aber dann – sobald er sie studierte und zu verstehen suchte – zu zappeln begannen und sich wieder in Chaos auflösten.

Ein leises Klingelzeichen weckte ihn.

Er lag immer noch im Gasschiff, in dem gestohlenen Voehn-Schiff. Die Bremsverzögerung schien ihm schwächer geworden zu sein, als näherten sie sich ihrem Ziel. Er schaltete auf Außensicht und sah genau vor ihnen eine orangerote Sonne. Die Dwellergestalt auf dem Sitz vor ihm drehte sich ein wenig zur Seite.

»Fassin?«, fragte Quercer & Janath.

Hätte er nicht im Schockgel im Innern des Gasschiffs gelegen, er wäre zusammengezuckt.

»Hmmm?«, antwortete er.

»Wir müssen Sie jetzt für eine Weile in Ihre kleine Zelle stecken.«

»Ja. Ich verstehe.«

»Sobald wir bei einem Ge angelangt sind.«

»Ich höre und gehorche«, sagte er gespielt gleichgültig.

Im mathematischen Raum des Gasschiffs fand Fassin ein Ergebnis.

In dem Bildblatt von einem teilweise bewölkten blauen Himmel waren tatsächlich Daten verborgen. Sie waren die ganze Zeit über da gewesen. Er hätte die Lösung, wenn sie es denn wirklich war, von Anfang an in Händen gehalten.

Die Daten sahen aus wie Alien-Algebra.

Er versuchte sie zu verstehen.

Sie bedeuteten nichts.

Sie konnten alles bedeuten.

Der Archimandrit Lusiferus hatte ein flaues Gefühl im Magen, das ihm nicht unbekannt war. Es trat immer dann auf, wenn er etwas zu lange aufgeschoben oder einfach falsch gemacht hatte. Als müsste man mitten in einem Spiel erkennen, dass man ein paar Runden oder Züge zuvor einen schweren Fehler begangen hatte, und wollte nun zurückgehen, alles ungeschehen machen, den richtigen Weg wählen, den Schaden beheben.