Feurich war so etwas wie ein Politikwissenschaftler und vertrat das breite rotbraune Äquatorband, das sie unter sich sehen konnten. Chintsion war derzeit oberster Chef einer Dachorganisation, die alle Clubs und anderen freiwilligen Zusammenschlüsse vertrat (das klang wie eine Beleidigung, aber dem Vernehmen nach war auch das angeblich sehr leistungsfähige Militär ein solcher ›Club‹). Peripule verwaltete als Administrator die größte Stadt, die aber keine Hauptstadt im herkömmlichen Sinn war, außerdem galt die Wahl zum Stadtadministrator nicht etwa als besondere Ehre oder als Gelegenheit, die Freuden der Macht zu genießen, sondern als Zumutung. Alle drei hatten grandiose, aber im Grunde nichts sagende Titel. Und sie redeten von nichts anderem als vom hohen Alter der Dweller-Spezies. Der Archimandrit hätte lieber mit wirklich ranghohen Persönlichkeiten verhandelt – falls es so etwas in der Dweller-Gesellschaft überhaupt gab – und eine größere Zahl von Abgesandten vorgezogen, aber das Zeitfenster war eng, und er konnte nicht wählerisch sein. allerdings befanden sich noch andere Dweller auf der Lusiferus VII – mehr als dreihundert an der Zahl. Man hatte zwei volle Schiffsladungen von Adoleszenten und jungen Erwachsenen, die sich auf einer Art Betriebsausflug befanden, an Bord gelassen, um ihnen alles zu zeigen. Ein Fanclub für Alien-Schiffe. Normalerweise hätte er so etwas niemals erlaubt.
Lusiferus spürte deutlich, dass ihm die Dweller nicht ihre volle Aufmerksamkeit schenkten. Von seinen Alien-Beobachtern wusste er, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung von Nasqueron weder um den kleinen Krieg kümmerte, der eben stattgefunden hatte, noch um die Anwesenheit einer Invasionsflotte. Tatsächlich wussten die meisten Dweller nicht einmal, was geschehen war, und wahrscheinlich wäre es ihnen ohnehin egal. Die Nachrichtensender des Planeten berichteten, soweit vorhanden, nur über einen so genannten Formalkrieg zwischen zwei Atmosphärebändern. Doch dabei schien es sich eher um ein Extremsportereignis in großem Stil zu handeln als um einen richtigen Krieg oder das, was Lusiferus darunter verstand. Es war alles nur ein Spiel.
Man würde ja sehen, ob es ihm gelang, sich die gebührende Beachtung zu verschaffen. Die Konferenzteilnehmer hingen über der spektakulären Aussicht, als wollten sie gleich abstürzen. Darüber patrouillierte Lusiferus’ Leibwache in Exoskeletten, die gepolsterten Klauenfüße lautlos, aber in präzisem Marschtritt aufsetzend, auf einem Netz von Laufstegen.
»Kommen wir zur Sache«, sagte Lusiferus, dem der lustlose Austausch von Belanglosigkeiten schon viel zu lange dauerte. »Wir wollen den Seher Fassin Taak«, erklärte er den Dwellern. »Genauer gesagt, wir wollen gewisse Informationen, nach denen er dem Vernehmen nach seit einiger Zeit sucht.«
»Was denn für Informationen?«, fragte Chintsion. Der ›Club‹-Chef erwies sich bislang als der gesprächigste von den drei Dwellern. Sein riesiger Schutzanzug hing, von unten schwach angestrahlt vom gallig gelben Widerschein des Planeten, in einer Sitzschlinge über der flachen Wölbung aus Diamantfolie. Der Anzug war grau mit einem Muster aus grellrosa Winkeln.
»Wir sind nicht befugt, diese Frage zu beantworten«, erklärte Lusiferus.
»Wieso denn nicht?«, fragte der Gelehrte Feurich. Sein Schutzanzug war von einem schmutzigen Weiß.
»Ich kann es Ihnen nicht sagen.« Lusiferus hob die behandschuhte, beringte Hand. »Bitte fragen Sie nicht weiter. Akzeptieren Sie es einfach.«
Die Dweller schwiegen. Wahrscheinlich verständigten sie sich untereinander durch Signale. Seine Techniker hatten ihn davor gewarnt und versucht, die Sitzschlingen so zu platzieren, dass die Aliens nicht auf diese Weise in Verbindung treten konnten. Doch die Dweller hatten sofort heftig protestiert, als sie die Anordnung der Sitze sahen, hatten unermüdlich an den Schlingen gezerrt und sogar versucht, sie nach ihren Wünschen neu zu konfigurieren und in eine andere Position zueinander zu bringen. Lusiferus hatte, mit seinen Diamantzähnen knirschend, den Technikern bedeutet, den Dwellern behilflich zu sein, und abgewartet, bis seine Gäste zufrieden gestellt waren.
Endlich saßen alle in einem großen Kreis. Mehr als die Hälfte belegten die Dweller, der Hierchon und seine Hand voll Ratgeber, der Rest blieb für die Menschen einschließlich des Archimandriten und andere Spezies.
»Wir wissen nicht, wo Seher Fassin Taak ist«, wandte sich Chintsion an Lusiferus. »Ich hörte, er wolle in eine Stadt namens Eponia in der Nördlichen Polar-Region. Aber das war nur ein Gerücht.«
»Eponia?«, fragte Peripule, der dritte Dweller. Sein Schutzanzug glänzte in einem satten Braun und hatte seetangähnliche Rüschen. »Nach meinen Informationen wurde er in Deilte gesehen.«
»In Deilte?«, fragte Chintsion verächtlich. »Zu dieser Jahreszeit?«
»Er ist ein Alien«, sagte Peripule. »Er hat keine Ahnung von Modetrends.«
»Erstens«, entgegnete Chintsion, »hat er einen Aufpasser, und …«
»Meine Herren«, mahnte Lusiferus. Die drei Dweller fuhren scheinbar erschrocken zurück.
»Der Archimandrit Lusiferus ist ein viel beschäftigter Mann«, dröhnte der Hierchon Ormilla. »Gespräche darüber, welche Städte in Nasqueron zu welcher Jahreszeit in Mode sind, sollten nicht in, sondern zwischen den Sitzungen geführt werden.«
»Klein-dweller« wandte sich Chintsion an den Hierchon, »wir sind bemüht, den Aufenthaltsort dieses Taak festzustellen, um deinen neuesten Herren einen Gefallen zu tun, obwohl deren Regime wahrscheinlich von geradezu lächerlicher Kürze sein wird. Der …«
Lusiferus hörte nicht mehr hin. Er wandte sich zu Tuhluer um, der seitlich dicht hinter ihm saß, und schaute ihm in die Augen. Tuhluer hielt seinem Blick stand. Lusiferus sah, wie er schluckte, aber er schlug die Augen nicht nieder. Das hatte Tuhluer bisher noch nie gewagt. Lusiferus beugte sich etwas näher zu ihm und sagte leise: »Verzweifelte Zeiten verlangen verzweifelte Maßnahmen, tuhluer.«
Sein Adjutant schaute zu Boden, dann nickte er und tippte Befehle in seinen Handschuh. Der Archimandrit drehte sich wieder um und schaute nach vorne.
Ein dumpfer Schlag war zu hören, eine Sekunde später folgte ein zweiter, dann, wie das Ticken einer großen Uhr, ein dritter.
Die beiden Peregale von Ulubis, alte Männer namens Tlipeyn und Emoerte, suchten die Dweller mit Schmeicheleien zu mehr Kooperation zu bewegen. Die Dweller taten recht überzeugend so, als wüssten sie nicht einmal, was das Wort bedeutete.
Der Archimandrit schaute aus dem Augenwinkel nach unten. Vor den schmutzig gelblich braunen Wolken des Planeten zeichnete sich deutlich eine Linie aus winzigen Flecken ab, die zur Seite hin abtrieb und auf die tausende von Kilometern tiefer vorbeiziehenden Wolkenbänke zusteuerte.
»… Sie können uns glauben, wir meinen es ernst«, versicherte Commander Binstey, der Oberbefehlshaber von Lusiferus’ Bodentruppen, den drei Dwellern.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Chintsion leichthin. »Aber das ändert nichts daran, dass wir möglicherweise nicht in der Lage sind, Ihnen in irgendeiner Weise zu helfen.«
Commander Binstey setzte zu einer Antwort an, aber Lusiferus unterbrach ihn. »Meine Herren«, sagte er leise. Binstey verstummte. »Dürfte ich Sie bitten, dort hinüberzusehen?« Er deutete mit einer beringten Hand auf die Seite des Planeten, wo die Fleckenkolonne langsam über die wabernden Gasschichten wanderte.
Alle gehorchten. Die Dweller drehten sich ein wenig zur Seite. Die Scharfsichtigsten unter den Anwesenden zeigten bereits eine Reaktion. Lusiferus hörte Gemurmel und keuchende Atemzüge. Die Zuschauer waren schockiert.
»Wir meinen es ernst«, erklärte nun auch Lusiferus den Dwellern und stand auf. »Hören Sie dieses Geräusch?« Er legte den Kopf schief, als lauschte er. Das dumpfe Ticken setzte sich gleichmäßig, gnadenlos fort. »Das ist ein Bombenabwurfschacht, der in Sekundenabständen seine Bomben absetzt. Nur sind die Bomben keine Sprengkörper, sondern Menschen. Stündlich werden mehr als dreitausend wehrlose Menschen ins All gestoßen und stürzen auf ihren Planeten zu. Männer, Frauen und Kinder, alte und junge Erwachsene, Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, zumeist Gefangene aus Schiffen, die kapituliert haben, und aus Habitaten, die beschädigt wurden. Wir haben mehr als zwanzigtausend an Bord und werden in diesem Rhythmus so lange weitermachen, bis hier Bewegung in die Verhandlungen kommt.«