Das war seltsam. Er hatte gedacht, er hätte das Bild aufgezeichnet und etwas, das darin verborgen war, bereits zur Hälfte entschlüsselt. Er war sogar ganz sicher. Damals war ihm das ungeheuer wichtig gewesen.
Fassin zermarterte sich das Gehirn. Er musste sich erinnern! Was war nach dem Angriff des Voehn-Schiffs geschehen? Die Voehn hatten sie alle gefangen genommen und verhört, und sie hatten sich an seinem Gehirn sowie am Biobewusstsein und den Speichern des Gasschiffs zu schaffen gemacht. Dann hatte ein Schiff, das ihnen die Ythyn zu Hilfe geschickt hatten, das Voehn-Schiff angegriffen, und er selbst, Y’sul und der Vollzwilling hatten – irgendwie – die Überlebenden der Voehn-Besatzung überwältigt.
Sie hatten die Voehn überwältigt?
Wie war das zugegangen? Das Ythyn-Schiff hatte die Voehn abgelenkt, und auch die Velpin hatte eine Rolle gespielt, irgendeine Piraten-Schutz-Automatik hatte eingegriffen und ihnen gegen die Voehn geholfen. Quercer & Janath hatten allerdings ein großes Geheimnis um die Technik gemacht, die ihr alter Kahn gegen die Voehn eingesetzt hatte.
Fassin hatte keine Ahnung, ob es sich so abgespielt hatte, wie sie sagten, oder nicht. vielleicht hatte die Velpin eine KI an Bord gehabt, die hatte die Voehn erledigt, aber Quercer & Janath wollten nicht, dass das bekannt wurde. Die Voehn hatten so übel an seinem Gedächtnis herumgepfuscht, dass er so gut wie alles geglaubt hätte, was ihm der Vollzwilling erzählte.
Er erinnerte sich, dass er auf den Stufen eines Tempels gesessen, über einen breiten, trägen Fluss geschaut und mit einem alten … Mann geredet hatte? Oder einem alten Dweller? Es war keine lineare Erinnerung, sondern ein sehr lebhaftes Bild. Die Begegnung musste wohl in einer VR irgendwelcher Art stattgefunden haben. vielleicht hatte der Alte die Velpin-KI verkörpert?Vielleicht hatte er tatsächlich mit dieser KI gesprochen oder war ihr zumindest begegnet?
Er konzentrierte sich wieder auf das Bildblatt. Das hatte er von Valseir bekommen. Das war doch richtig? Es war eine Art Visitenkarte, ein Empfehlungsschreiben, das ihn … Ihm war so, als hätte es ihn zu Valseir geführt, aber das ergab keinen Sinn.
Nein, langsam: das Haus in den Tiefen, der alte wandernde Dweller. Er hatte ihm das Bildblatt gegeben. Und es hatte ihn irgendwie zu Valseir geführt. Aber da war noch etwas. Er hatte noch etwas entdeckt. Kurz vor dem Eintritt ins Wurmloch war er aufgewacht und hatte darüber nachgedacht. In dem Bildblatt war etwas verborgen. Eine Nachricht, ein Kode.
Fassin sah sich auf der leeren Plattform um. Außer ihm war niemand hier. Er befahl der Bildverarbeitung seines Gasschiffchens, die Darstellung auf dem Blatt so genau wie möglich zu untersuchen. Verschiedene Routinen schalteten sich ein. Minuten später löste er den Blick von der kargen, aber vertrauten Sternenlandschaft über sich. Die Ergebnisse waren da.
In dem Bild war tatsächlich etwas verborgen.
Eine Art Alien-Algebra.
Ungefähr anderthalb Seiten lang. Eine lange Gleichung, vielleicht auch drei oder vier kürzere.
Fassin war sehr aufgeregt. Er wusste nicht genau, warum, aber er hatte das Gefühl, dass diese Entdeckung irgendwie mit der Dweller-Liste zusammenhing. Die Einzelheiten ließen sich nicht fassen, aber er hatte nach der Transformation gesucht, die ihm die berühmte Liste erschließen sollte, und vielleicht – nur vielleicht – hatte diese fremdartige Mathematik etwas damit zu tun. Vielleicht war dies sogar die Transformation, auch wenn es ihm nicht ganz leicht fiel, daran zu glauben.
Fassin rätselte an der Bedeutung der Symbole herum, fand aber keinen Anfang. wenn die umfassend manipulierten Speicher seines Gasschiffchens einmal etwas enthalten hatten, was ihm die Richtung hätte weisen können, dann war es nicht mehr da.
Er griff auf die Datennetze der Stadt zu, loggte sich in eine Universitätsbibliothek im Äquatorband ein und rief eine spezielle Datenbank für Alien-Mathematik auf. Dann wählte er aus seinen Gleichungen willkürlich zwei Symbole aus und schickte sie dorthin. Sofort bekam er entsprechende Referenzen.
Was er vor sich hatte, war in Translatio V geschrieben, einer speziesübergreifenden ›Universal‹-Notation, die vor etwa zwei Milliarden Jahren von den längst ausgestorbenen Wopuld aus älteren Dweller-Elementen entwickelt worden war. Fassin lud sich ein komplettes Übersetzungsprogramm herunter.
Dann hielt er inne und schaute über die oberste Wolkenschicht hinweg. In seinem Innern tobte ein Sturm von widersprüchlichen Gefühlen.
Vielleicht hatte er damit gefunden, worauf man ihn angesetzt hatte. Dann wäre das Ziel seiner Mission erreicht. Und nicht nur seiner Mission, er durfte Colonel Hatherence nicht vergessen. Durchaus möglich, dass er die ganze Zeit nach diesen Gleichungen gesucht hatte. Doch falls die Merkatoria oder zumindest die Ulubis-Merkatoria sich davon die Rettung versprochen hatte, dann hatte er sie enttäuscht. Er war zu spät zurückgekehrt, die Invasion war bereits erfolgt. Alles war vorüber.
Und er hatte so vieles vergessen! Was hatten die Voehn bloß mit ihm gemacht? Y’sul war schwer verletzt worden, aber bis auf die Nachwirkungen des Heilkomas schien er – auch nach eigenen Aussagen – in guter geistiger Verfassung zu sein. Quercer & Janath hatten offenbar keinerlei Schaden genommen. Vielleicht hatten sie einfach Glück gehabt, oder es hing mit ihrem Status als Vollzwilling zusammen – er wusste es nicht.
Dennoch musste er diese Symbole entschlüsseln. vielleicht gewann er doch noch wichtige Erkenntnisse. Auch wenn die Invasion bereits erfolgt war, der Gegenangriff stand noch aus, und außerdem hatte er in diesem Fall seine eigene Ansicht darüber, wer gut und wer böse war. Sollte die Gleichung irgendwelche brauchbaren Informationen liefern, dann würde er sie nach wie vor lieber den Beyondern zukommen lassen.
Im Westen, weit jenseits der obersten Wolkenschicht, blitzte dicht über dem Horizont etwas auf. Vielleicht ein Schiff im All.
Fassin wandte sich wieder der Gleichung und dem Übersetzungsprogramm für die Alien-Sprache zu und wandte Letzteres auf Erstere an. In dem virtuellen Raum, den das defekte Biobewusstsein des Gasschiffs in sein eigenes Bewusstsein projizierte, teilte sich das Bild, und neben dem Original erschien eine Kopie der Gleichung. Die Symbole in der Kopie veränderten und verschoben sich, bis die Übertragung in die Standardnotation der Dweller abgeschlossen war. Dann flackerten die Symbole in beiden Kopien der Gleichung, leuchteten auf, durchliefen verschiedene Farben, schwollen an und verschmolzen wieder mit ihrer Umgebung. Die Gleichung löste sich selbst.
Es handelte sich tatsächlich um eine Gleichung. Er hatte auf Grund irgendeiner Bemerkung die Vorstellung gehabt, es könnte sich um eine Frequenz und ein Signal handeln, aber das war nicht der Fall. Oder die Verschlüsselung wäre schon sehr ungewöhnlich gewesen.
Auf beiden Seiten des geteilten Bildes begannen die letzten Terme aufzuleuchten. Und schließlich erschien, langsam blinkend, ganz am Ende das Ergebnis.
Es war eine Null.
Erstarrte das Zeichen, die Zeichen an.
In der Standardnotation der Dweller war eine Null ein Punkt mit einer kurzen Linie darunter. In Translatio V war die Null ein Schrägstrich.
Von der Gleichungskopie blinkte ihn ein Punkt mit einer kurzen Linie darunter an. Am Ende des Originals stand, ebenfalls blinkend, ein Schrägstrich.
Er versuchte es noch einmal. Mit dem gleichen Resultat.
Er nahm sich abermals das Bild vor und extrahierte den verborgenen Code, für den Fall, dass die Prozessorsysteme beim ersten Mal einen Fehler gemacht hatten.
Es war kein Fehler gewesen. Beim zweiten Durchlauf kam eine identische Gleichung heraus. Dennoch ließ er sie durchrechnen.