Fassin fühlte sich bei alledem noch sehr unsicher. Plötzlich hatte er mit Organisationen und Machtstrukturen zu tun, an die er im Traum nicht gedacht hätte, und musste mit Hierarchien und Netzwerken zu Rande kommen, von denen er nur eine sehr vage Vorstellung hatte. Er hatte soeben – wahrscheinlich nur bildlich gesprochen – auf den Tisch hauen und sich beklagen wollen, weil er den Auftrag, den man ihm eindeutig erteilt hatte, nicht sofort ausführen konnte. Doch dann wurden Ganscerel und sein Flug von Qua’runze erwähnt, und er sah ein, dass bereits alles entschieden war und er keine Aussicht hatte, den Gang der Dinge zu beschleunigen.
Einerseits war ihm das ganz recht. wenn das System tatsächlich akut von einer Invasion bedroht war und er mitten in der heißesten Phase auf den wichtigsten Trip seines Lebens geschickt wurde – bei der Zeitspanne, die vor dem Eintreffen der Feinde angeblich noch blieb, war es sogar sehr wahrscheinlich, dass er sich noch in Nasqueron befand, wenn es so weit war – dann wollte –, musste – er einen letzten privaten Trip in die Unterwelt von Borquille unternehmen, in den zwielichtigen, aufregenden und gefährlichen Sündenpfuhl der Stadt. Plötzlich hatte er noch eine Menge zu tun. Er musste mit gewissen Personen sprechen, zumindest mit einer Person. Da konnte es ganz nützlich sein, wenn sich die Abreise Ganscerels wegen verzögerte. Seine Vorgesetzten wollten ihn wahrscheinlich nicht aus den Augen lassen, aber er würde sich schon zu helfen wissen.
Außerdem hatte er den Verdacht, dass man vorhatte, den Trip von Third Fury aus durchzuführen. Er, Ganscerel und Paggs sollten wahrscheinlich verkabelt im Stützpunkt liegen und mit ferngesteuerten Sonden in Nasqueron kommunizieren. (Ganscerel war sicherlich nicht mehr in der Verfassung, in ein Gasschiff zu steigen, Kiemenwasser zu atmen und, in Schockgel gepackt, eine hohe Ge-Belastung auszuhalten – das alles hatte er noch nicht einmal getan, als er noch jung war.) Auch hier musste Fassin einen Ausweg finden.
Also beschwerte er sich zunächst mit gut gespielter Empörung, dass man ihm nicht gestatten wollte, an die Arbeit zu gehen, und forderte dann ein paar Tage Pause.
»Sie wollen Urlaub?« Somjomion starrte ihn fassungslos an. Sie haben eine sehr intensive Einweisungs-und Trainingsphase vor sich, Major Taak. Die Arbeit vieler Tage muss in wenige Stunden gepresst werden. Für Urlaub ist nun wirklich keine Zeit.«
Er erklärte ihr, dass Ganscerel alt und gebrechlich sei und deshalb nur langsam reisen könne. Somjomion widersprach entrüstet, prüfte die Behauptung aber nach und verlangte dann ein weiteres persönliches Gespräch mit dem Hierchon. »Tatsächlich«, seufzte sie schließlich. »Aus dem Profil des Obersten Sehers geht hervor, dass er körperlich nicht in der Lage ist, Belastungen über 1, 5 Ge auszuhalten, und er hält sogar das für eine Zumutung. Er kann den Stützpunkt auf Third Fury erst in neun Tagen erreichen.« Colonel Somjomion sah Fassin scharf an. »Sie beginnen gleich morgen mit einer ausführlichen Einweisung, Major Taak. wenn danach noch Zeit ist, können Sie einen oder zwei Tage Urlaub nehmen. Aber ich will nichts versprechen.«
»Soso. Ein neuer Notstand«, sagte Saluus und lächelte breit. »Und wie man hört, habe ich das dir zu verdanken, Fass.« Er reichte ihm eine schmale Sektflöte.
Fassin nahm das Glas. »Ganz allein mein Werk.«
Sal gehörte zu den wenigen Personen in diesem System, für die das Inkrafttreten eines Notstandsplans ein legitimer Grund zum Feiern war.
»Tatsächlich?«, fragte Saluus. »Dann bist du noch bedeutender, als ich dachte. Und dabei siehst du immer noch aus wie zwanzig, du Hund.« Sals Lachen klang unbeschwert, ein Mann, der es sich leisten konnte, mit Komplimenten um sich zu werfen. Die beiden stießen an. Sie tranken Champagner der Marke Krug. Es war ein unvorstellbar alter Jahrgang, der noch von der Erde stammte und wahrscheinlich so viel wert war wie ein kleines Raumschiff. Wohlschmeckend, aber nur wenig moussierend.
Die beiden Männer standen auf einem Balkon und schauten über den Krater. Die aufschießenden Wasser bildeten eine gewaltige schäumende Wand, die sich unter dem Haus nach allen Seiten ausbreitete, ein flacher Hohlkegel aus kleinen Schaumhügelchen und -rippen, die sich wild aufbäumten, in sich zusammenfielen und schließlich nach außen rasten, wo sie sich ein wenig beruhigten und in tosenden Wellen ausliefen. Der Balkon befand sich dicht über dem Äquator des Kugelhauses, so dass die beiden die Wassersäule, auf der alles ruhte, nicht sehen konnten. Nur der Lärm schallte von den zwei Kilometer entfernten Kraterwänden zu ihnen zurück.
Sie waren nach einem schlichten Empfang und einem kleinen Essen mit einigen Freunden von Sal und seiner Frau – lauter Prominenten, die nur für den Nachmittag gekommen waren – hier heraufgestiegen. Fassin wollte zwei Tage bleiben, dann brauchte ihn die Justitiarität wieder in Borquille. Er trug noch immer die dunkelgraue Uniform mit den auffälligen blauen Biesen.
Sal lehnte sich mit dem Rücken gegen die Brüstung. »Ich freue mich jedenfalls, dass du gekommen bist.«
Fassin nickte. »Ich bedanke mich für die Einladung.«
»Es war mir ein Vergnügen. Obwohl mich deine Anfrage etwas überrascht hat.«
»Zu dir haben sie Vertrauen, sal.« Fassin zuckte die Achseln. »Ich musste raus aus diesem ganzen militärischen Zirkus, und sie hätten mich nicht einfach durch das Palasttor und weiter nach Boogeytown spazieren lassen.« Er schaute über die tobenden Fluten. »Und überhaupt« – ein Blick auf Sal – »haben wir uns viel zu lange nicht gesehen.« Sein alter Freund sollte den Eindruck haben, er hätte nur einen Vorwand gesucht, um die längst fällige Versöhnung in die Wege zu leiten. Sie hatten sich in den zweihundert Jahren seit der Zerstörung des Wurmlochs nur sporadisch getroffen, gewöhnlich bei gesellschaftlichen Massenveranstaltungen, vor denen man sich kaum drücken konnte, obwohl man sich dabei leicht einsam fühlte. Zu einer offenen Aussprache war es nicht gekommen.
Auch jetzt brauchten sie sich mit ganzen Passagen ihres Lebens nicht weiter zu befassen. Womit sich jeder von ihnen beschäftigte und wie er lebte, war ein offenes Geheimnis, es wäre fast kränkend gewesen, sich danach zu erkundigen. Fassin kannte Sals Frau schon aus den Klatschspalten der Medien, es war fast überflüssig, ihn mit ihr bekannt zu machen. Beim Empfang hatte es keine einzige Person gegeben – die Dienerschaft natürlich ausgenommen – über die Fassin, der sich wahrhaftig nicht allzu sehr für das Gesellschaftsleben interessierte, nicht sofort eine Kurzbiographie hätte verfassen können. Saluus war über Fassin wahrscheinlich weniger gut informiert als umgekehrt, aber er hatte ihm bereits zu seiner Verlobung mit Jaal Tonderon gratuliert, soweit war er also im Bilde. (Oder, was wahrscheinlicher war, er hatte einen tüchtigen Sekretär mit einer umfassenden Datenbank.)
»Was kannst du mir denn nun erzählen, Fass?«, fragte Sal beiläufig und krauste die Nase. »Oder darfst du gar nichts sagen?«
»Über den Notstand?«
»Darüber, was hinter dem ganzen Theater steckt.«
Es war mehr als nur Theater; es war ein Krieg auf niedrigem Niveau. Einen Tag nach der Ausrufung des Kriegsrechts hatte eine Serie von Angriffen stattgefunden. Ziel waren meist vereinzelte Schiffe und Siedlungen am Rand des Systems gewesen, aber es war auch zu mehreren beunruhigenden Anschlägen im Innern des Systems gekommen. Unter anderem hatte der Beschuss eines Dock-Habitats der Navarchie an Sepektes Lagrange-Punkt L5 mehr als tausend Opfer gefordert. Niemand wusste, ob die Urheber dieser neuerlichen Gewalttaten die Beyonder-Rebellen oder die Vorhut des E-5-Separats waren, oder vielleicht beide zusammen.