Noch unerklärlicher war ein anderer Vorfall, der Fassin weit mehr erschütterte. nur einen Tag vorher war das Hochsommerhaus des Sept Litibiti auf ’glantine zerstört worden; durch eine Atombombe aus dem Weltraum, als handelte es sich um eine militärische Einrichtung. Die Residenz hatte leer gestanden, nur eine Hand voll Gärtner und das übliche Reinigungspersonal, die bis zur Saison alles in Schuss hielten, waren umgekommen. Dennoch befürchteten die Seher im ganzen System, sie könnten plötzlich aus unbekannten Gründen zur Zielscheibe werden. Fassin hatte eine Nachricht an Slovius geschickt und zu bedenken gegeben, ob es nicht ratsam wäre, den ganzen Sept an einen anderen Ort auf ’glantine zu bringen. vielleicht in eine der Residenzen, die von der Jahreszeit her nicht an der Reihe wäre. Er hatte noch keine Antwort erhalten, das konnte entweder bedeuten, das Slovius seinen Rat ignorierte, oder dass die von den Behörden neu eingeführte Software zur Kontrolle und Zensur des Nachrichtenverkehrs noch ihre Macken hatte. Beides hätte ihn nicht überrascht.
»Sag mir, was du weißt«, schlug Fassin vor. »Ich werde die Lücken füllen, soweit ich kann.
»Man will Kriegsschiffe, Fass.« Sals Lächeln sah traurig aus. »Eine Unmenge von Kriegsschiffen. wir sollen so viele bauen, wie wir können und so lange wir können, und das besser heute als morgen. Alle schwierigeren Projekte, die länger als ein Jahr dauern könnten, werden zurückgestellt, auch wenn sie schon angelaufen sind. Wir sollen alle möglichen Kähne auf Gaslinienform trimmen …« Sal hielt inne, dann räusperte er sich und winkte ab.»Verdammter Schwachsinn; man verlangt, dass wir eine Grobplanung für die Umrüstung von allen möglichen Zivilschiffen vorlegen: bewaffnete Kauffahrer; Bergwerksschiffe für die Gaswolken, Umbau von Kreuzfahrtschiffen etc. Beim letzten Notstand war davon noch nicht die Rede. Was immer also vorgeht, es ist ernst, die Bedrohung ist vermutlich glaubwürdig, wie unsere militärischen Freunde sagen würden, und sie ist nicht sehr weit weg. Jetzt bist du an der Reihe.«
»Ich kann über vieles nicht sprechen«, begann Fassin bedächtig. »Und das meiste davon würde dich ohnehin nicht interessieren.« Er überlegte, wie viel er sagen konnte und was er sagen musste. »Es hat vermutlich mit dem so genannten Separat Epiphanie Fünf zu tun.«
Sal zog eine Augenbraue in die Höhe. »Hm. Ziemlich weit weg. Man fragt sich, was die Leute hierher locken mag. Wenn sie von dort aus kernwärts fliegen, finden sie reichere Beute.«
»Aber ein beträchtlicher Teil der Generalflotte ist unterwegs. Sagt man.« Fassin grinste.
»Hmhm. Verstehe. Und was ist mit dir?« Sal beugte sich näher zu Fassin und senkte die Stimme. »Was spielst du bei alledem für eine Rolle?«
Fassin fragte sich, wie weit das ständige Rauschen des Wassers ihre Worte übertönen würde, falls jemand sie von ferne belauschte. Er hatte nach seiner Ankunft geduscht und vom Haus frische Kleider angefordert – mit der Begründung, er sei länger unterwegs gewesen als geplant, deshalb sei ihm die Garderobe ausgegangen. Die Erklärung war unnötig. Die Diener schienen durchaus daran gewöhnt, Kleidung in verschiedenen Größen und für beide Geschlechter an Hausgäste auszugeben. Immerhin – heutzutage konnte man auch ohne die verbotenen Gräuel der Nanotechnik sehr kleine Wanzen produzieren. Ob ihm die Justitiarität oder die Leute des Hierchon wohl einen Spürsender oder ein Mikrofon angehängt hatten? Und was war mit Sal? War es für ihn womöglich Routine, seine Gäste überwachen zu lassen? Sein Freund wartete auf eine Antwort.
Fassin schaute in sein Glas. Ein paar Gasbläschen stiegen an die Oberfläche, zerplatzten und entließen eine winzige Menge Erdsubstanz in die Atmosphäre eines zwanzigtausend Lichtjahre entfernten Planeten. »Ich habe nur meine Arbeit gemacht, Sal. Bin auf Trips gegangen, habe mit den Dwellern gesprochen und mitgenommen, was sie mich mitnehmen ließen. Meistens war es nichts Weltbewegendes, nichts Wichtiges, nichts, was viel verändert hätte, nichts, was irgendjemand haben wollte oder wofür er alles aufs Spiel setzen würde.« Er sah Saluus Kehar fest in die Augen. »Ich bin einfach so durchs Leben gestolpert, verstehst du? Über alles, was auf dem Weg lag. Wusste nie, was wohin führen würde.«
»Wer weiß das schon?«, fragte Sal, dann nickte er. »Aber ich verstehe, was du meinst.«
»Bedauere, aber viel mehr kann ich dir wirklich nicht sagen.«
Sal lächelte und schaute über die künstliche Brandungswand und die tobenden Wellen dahinter zu den schroffen Felsen, die in der Ferne braunschwarz in den diesigen azurblauen Himmel ragten.
»Ach, da kommt ja dein Kindermädchen«, sagte er. Ein Stück entfernt war Colonel Hatherence von der Justitiarität in ihrem Schutzanzug erschienen. Sie schwebte wie eine dicke graugoldene Scheibe tief über den schäumenden, wild kochenden Wassern. Rotierende Flügelräder an beiden Seiten des Anzugs verhinderten, dass sie in den Mahlstrom geriet. Von hier oben sah der Schutzanzug sehr klein aus, während er gewaltig wirkte, wenn man dicht daneben stand.
»Hast du Schwierigkeiten mit ihr?«
»Nein. Sie ist in Ordnung. verlangt nicht, dass ich andauernd salutiere oder sie mit ›Madame‹ anrede. Hat nichts gegen einen zwanglosen Umgangston.« Dennoch hoffte er, den unerwünschten Aufpasser vor oder nach der Landung in Nasqueron irgendwie loszuwerden.
Fassin beobachtete, wie sich der Colonel über die Wellenlandschaft tastete. »Hältst du es für möglich, dass ich mich nach Boogeytown schleiche, obwohl sie mir auf Schritt und Tritt folgt?«, fragte er.»Wenigstens für eine einzige letzte Nacht?«
Sal schnaubte. »Die Kneipen sind zu schäbig und die Decken zu niedrig.«
Fassin lachte. Es ist wie Sex, dachte er. Oder eher wie ein Verführungsritual, einer dieser albernen Balztänze. Willst du oder willst du nicht, kommst du oder kommst du nicht? Er führte Sal in Versuchung und führte ihn zugleich an der Nase herum …
Hatte er wohl genügend in Rätseln gesprochen und doch durchblicken lassen, er sei unter Umständen zu haben? Er brauchte diesen Mann.
Abendessen mit Sal, seiner Frau, den Konkubinen der beiden und einigen Geschäftspartnern. Unter Letzteren ein Whule, ein Jajuejein und ein Quaup. Man unterhielt sich über neue Anschläge auf entlegene Außenposten, über das Kriegsrecht, die Verzögerungen im Nachrichtenverkehr, die Reisebeschränkungen und darüber, wer bei dem neuen Notstand gewinnen und wer verlieren würde (wer sich hier auf den Liegen räkelte, rechnete allenfalls damit, für begrenzte Zeit auf ein paar kleinere Freiheiten verzichten zu müssen). Colonel Hatherence saß schweigend in einer Ecke. Sie brauche keine externe Nahrung, vielen Dank, sei aber sehr erfreut und fühle sich geehrt, dabei sein zu dürfen, während die anderen sich stärkten, Gespräche führten und gesellschaftliche Beziehungen pflegten. Sie selbst bemühe sich inzwischen, ihr Wissen über Nasqueron und seine berühmten Dweller auf den neuesten Stand zu bringen (das sei dringend nötig!).
Getränke, leicht narkotisierende Speisen, Drogenschalen. Vor dem Balkon des Speisezimmers sorgte eine Truppe von menschlichen Akrobaten bei Flutlicht für Unterhaltung.
»Nein, ich meine es ernst!«, rief Sal seinen Gästen zu und deutete auf die Akrobaten, die an Seilen und Trapezen durch die Luft flogen. »Wenn sie abstürzen, sind sie höchstwahrscheinlich tot! Im Wasser ist so viel Luft, dass der Körper nicht schwimmt. Er geht sofort unter. Wird von der Unterströmung mitgerissen. Nein, du Schwachkopf!«, fuhr er seine Frau an. »Zum Atmen reicht die Luft nicht!«
Einige Gäste verabschiedeten sich. Später wurden Getränke serviert, die Menschen blieben unter sich. Man besichtigte Sals Trophäensaal, für Colonel Hatherence waren Gänge und Räume leider zu klein (schon gut; ohnehin müde; gute Nacht!). Sals Frau ging zu Bett, die letzten Gäste zogen sich zurück. Bald waren die beiden allein mit den ausgestopften, gefirnissten, geschrumpften oder ummantelten Tierköpfen von Dutzenden von Planeten.