»Das könnte auch für Nasqueron gelten«, gab Ganscerel zu bedenken.
»Nasqueron hält sehr viel mehr aus als Third Fury.«
»Du könntest auch selbst ins Visier genommen werden.«
»In einem Gasschiff wäre ich – selbst mit Colonel Hatherence als Copiloten – praktisch nicht zu orten«, erklärte Fassin.
»Es sei denn«, sagte Paggs, »sie müsste ständig Kontakt mit ihren Vorgesetzten halten.«
»Und das könnte der tiefere Grund sein, warum wir alle zusammen auf Third Fury bleiben und uns auf einen virtuellen Trip beschränken sollten«, seufzte Ganscerel und sah Fassin an. »Kontrolle. Zumindest der Anschein davon. Unsere Herren sind sich vollauf bewusst, wie wichtig diese Mission ist, auch wenn sie es im Augenblick nicht für nötig halten, all jenen Auskünfte über ihre wahre Natur zu geben, die eigentlich Bescheid wissen müssten. Natürlich haben sie eine Heidenangst davor, dass man ihnen die Schuld gibt, wenn etwas schief geht. Tatsächlich liegt alles an uns: ein Haufen Gelehrter, für die sie nie viel übrig hatten, auch wenn …« – Ganscerel sah die versammelten Juniorseher an – »der Umstand, dass Ulubis ein Zentrum für Dweller-Forschung ist, das Einzige darstellt, was unser System in irgendeiner Weise bemerkenswert macht.« Wieder richtete er den Blick auf Fassin. »Sie können sehr wenig tun, deshalb werden sie sich mit äußerster Sorgfalt auf jede Kleinigkeiten konzentrieren, die sie beeinflussen können. Wenn wir alle scheinbar sicher auf Third Fury sitzen, von einer kleinen Kriegsflotte beschützt, werden sie das Gefühl haben, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um uns zu helfen. Wenn sie dich nach Nasqueron fliegen lassen und etwas schief geht, gibt man ihnen die Schuld. Insoweit haben sie Recht.«
»Es wird nicht funktionieren, Braam.«
»Ich denke, wir müssen es versuchen«, sagte der Alte. »Schau.« Er streichelte Fassins Arm. Fassin trug die Uniform eines Majors der Justitiarität und fühlte sich unter seinen Seherkollegen damit fehl am Platz. »Hast du in letzter Zeit einen virtuellen Trip versucht?«
»Schon lange nicht mehr«, gestand Fassin.
»Es ist anders geworden«, nickte Paggs. »Sehr viel lebensnäher, wenn du verstehst, was ich meine. Überzeugender.« Paggs lächelte. »In den letzten zweihundert Jahren hat es viele Verbesserungen gegeben. Ehrlich gesagt haben wir das hauptsächlich der Real-Trip-Bewegung zu verdanken.«
Oh Paggs, warum schmeichelst du mir?, dachte Fassin.
Ganscerel streichelte wieder seinen Arm. »Versuch es wenigstens einmal, Fassin, ja ? Tust du mir den Gefallen?«
Fassin wollte nicht sofort ja sagen. Das tut alles nichts zur Sache, dachte er. Selbst wenn ich nicht wüsste, dass Third Fury möglicherweise in Gefahr schwebt, ist das schlagende Argument doch dies, dass uns die Dweller, mit denen wir reden müssen, einfach nicht ernst nehmen, wenn wir nur virtuell zu ihnen kommen. Es hat mit Respekt zu tun, damit, dass wir Risiken eingehen, um ihre Welt mit ihnen zu teilen, dass wir wirklich bei ihnen sind. Aber er durfte nicht stur erscheinen. Behalte noch ein paar Argumente in der Hinterhand; man sollte immer Reserven haben. So nickte er nach kurzem Zögern. »Nun gut. Einverstanden. Aber nur ein Probe-Trip. Ein oder zwei Tage. Das reicht, um etwaige Unterschiede festzustellen. Danach müssen wir uns endgültig entscheiden.«
Ganscerel lächelte. Alle anderen auch.
Das Abendessen mit den Offizieren der kleinen Flotte, die sie nach Third Fury brachte, war sehr angenehm.
Irgendwann bekam Fassin Ganscerel allein zu fassen. »Oberster Seher«, sagte er. »Ich werde diesen virtuellen Trip machen, aber wenn ich das Gefühl habe, die Methode ist nicht gut genug, muss ich darauf bestehen, selbst hinunterzufliegen.« Er gab Ganscerel Gelegenheit, sich zu äußern, aber der Alte warf nur den Kopf zurück und sah ihn an. »Ich bin dazu berechtigt«, fuhr Fassin fort. »Das geht aus den Instruktionen von Admiral Quile und dem Komplektor-Rat eindeutig hervor. Mir ist klar, dass diese Anweisungen von Leuten innerhalb des Systems untergraben wurden, die sich eigene Vorstellungen machen, wie man das Problem am besten bewältigt, aber wenn es sein muss, werde ich so weit nach oben gehen, wie ich kann, um mich durchzusetzen.«
Ganscerel überlegte eine Weile, dann lächelte er. »Glaubst du, dieser Trip – vielleicht werden es auch mehrere – glaubst du, diese Mission wird Erfolg haben?«
»Nein, Oberster Seher.«
»Ich auch nicht. Aber wir müssen es dennoch versuchen, und wir müssen tun, was wir können, um Erfolg zu haben, auch wenn das Scheitern wahrscheinlich schon vorprogrammiert ist. Man muss deutlich sehen, dass wir unser Möglichstes tun, wir müssen uns bemühen, niemand aus den höheren Rängen zu verärgern, und wir müssen bestrebt sein, den guten Namen und die Zukunftsaussichten der ›Langsamen‹-Seher in ihrer Gesamtheit zu schützen. Dazu sind wir auf jeden Fall imstande. Meinst du nicht auch?«
»So weit gehe ich mit.«
»Wenn du aufrichtig der Meinung bist, einen realen Trip machen zu müssen, werde ich dir nicht im Wege stehen. Ich werde dich auch nicht unterstützen, denn damit würde ich mich in meiner Position allzu offenkundig hinter ein Verfahren stellen, das ich im Grunde immer noch für unverantwortlich halte. In jeder anderen Situation würde ich dir einfach befehlen, das zu tun, was dein ranghöchster Oberster Seher von dir verlangt. Aber du hast Anweisungen von oben, Fassin Taak – von sehr hoch oben – und das ändert die Lage. Wie auch immer. Versuche es mit diesem virtuellen Trip. vielleicht bist du überrascht. Und dann triff deine Entscheidung. Insoweit hast du meine volle Unterstützung.« Ganscerel zwinkerte ihm zu und wandte sich ab, um sich mit dem Captain des schweren Kreuzers zu unterhalten.
Fassin hatte noch nie erlebt, dass volle Unterstützung so gleichbedeutend war mit ›jemanden im Regen stehen zu lassen‹.
Die Pyralis zog einen grellen Leuchtschweif hinter sich her, als sie in den schützenden Magnetschatten von Third Fury eintrat, einer kleinen Felskugel von zwanzig Kilometern Durchmesser, die nur 120 000 Kilometer über Nasquerons blauen Wolkenmassen kreiste. Der Gasriese erfüllte den ganzen Himmel, er war so nahe, dass er nicht mehr rund wirkte, sondern wie eine mächtige Wand. Seine Gürtel und Zonen aus rasenden, wirbelnden, ewig brodelnden Wolken erinnerten an planetenbreite gegenläufig rotierende Ströme von Flüssigkeit in irren Farben, die unter vollkommen durchsichtigem Eis aneinander vorbeirasten.
Third Fury hatte so gut wie keine Atmosphäre und nur eine leise Andeutung von Schwerkraft. Der schwere Kreuzer hätte fast direkt an dem Seher-Stützpunkt auf der Seite des kleinen Mondes andocken können, die ständig Nasqueron zugewandt war. Dennoch wurden sie von einem Truppentransportschiff dorthin gebracht. Die Pyralis hielt ein paar Kilometer Abstand, wurde im Grunde ein weiterer temporärer Satellit des Gasriesen. Die Eskorte aus zwei leichten Kreuzern und vier Zerstörern postierte sich dreißig bis vierzig Kilometer weiter draußen in einem komplizierten Netzwerk von Orbits um den Mond. Ihre schmalen Schatten waren nur zu sehen, wenn sie langsam vor dem gebänderten Antlitz des Planeten vorüberzogen.
Third Fury war vor Milliarden von Jahren von einer der ersten Spezies, die den Nasqueron-Dwellern ihre Aufwartung machten, auf einem bereits vorhandenen Kleinmond erbaut oder vielmehr in diesen hineingebaut worden. Dweller waren die am weitesten verbreitete planetengestützte Spezies der Galaxis mit einer Präsenz in allen Gasplaneten – die ihrerseits den häufigsten Planetentyp darstellten. In Anbetracht dessen sprach die Tatsache, dass von mehr als neunzig Millionen von Dwellern bewohnten Supergloben genau acht eine Bevölkerung hatten, die bereit war, Fremdwesen zu empfangen und nicht nur über völlig belanglose Dinge mit ihnen zu kommunizieren, Bände – genauer, Bibliotheken – über das so gut wie nicht vorhandene Interesse dieser Spezies am Alltagsleben der übrigen galaktischen Gemeinschaft.