So war man, besonders unter den Zivilisationen, die noch die blauen Flecken von früheren Zusammenstößen mit einer der wohl erfolgreichsten Spezies der Galaxis spürten, oder in deren Datenbanken neuere Bilder vom Schicksal anderer Dweller-Opfer ruhten, schon lange übereingekommen, dass es alles in allem am Besten sei, die Dweller einfach in Ruhe zu lassen.
Wenn man die Dweller sich selbst überließ, störten sie niemanden, allenfalls gelegentlich sich selbst und diejenigen, die sich zu viele Gedanken darüber machten, wie man sie denn nun wirklich zu verstehen hätte. Schließlich war ihre Geschichte wie die Geschichte der Galaxis geprägt von Ruhe und Frieden – wenn auch nicht ganz ohne Unterbrechungen. Über Milliarden und Abermilliarden von Jahren passierte zum Glück nur sehr wenig. In mehr als zehn Milliarden Jahren zivilisierten Lebens hatte es nur dreimal ein großes Chaos gegeben, und die Zahl von wirklich galaxisübergreifenden Kriegen schaffte es nicht einmal bis in die Zweistelligkeit. Und das auf der Basis acht!
Die Dweller hielten das offenbar für eine Leistung, auf die alle Beteiligten ein wenig stolz sein dürften. Besonders sie selbst.
»Ich heiße Sie alle herzlich willkommen! Oberster Seher, ich freue mich, Sie zu sehen! Seher Taak, Seher Yurnvic. Junge Freunde. Und das muss Colonel Hatherence sein. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Madame.« Duelbe, der kahlköpfige, kugelrunde Haushofmeister der Gemeinschaftsanlage Third Fury begrüßte die Gäste in der Transithalle, während der Truppentransporter wieder ablegte und zur Pyralis zurückflog. Zwei von den jüngeren Sehern, die dem eindeutig ballförmigen Duelbe noch nie begegnet waren, rissen die Augen auf. In solchen Momenten drängten sich üblicherweise Vergleiche zwischen der Form von Third Fury und dem Haushofmeister seiner Gemeinschaftsanlage auf. Zum Glück blieben sie bei dieser Gelegenheit unausgesprochen.
Diener kümmerten sich um die Gepäckpaletten. Hatherence verscheuchte alle Bediensteten, die ihr helfen wollten, sich durch den vergleichsweise engen Raum zu bewegen – die Kuppelhalle war wie der Rest der zumeist unterirdischen Anlage seit dem Abzug der letzten Spezies, der man Seher-Status gewährt hatte, nach menschlichen Dimensionen umgebaut worden, ohne dass man größere räumliche Zugeständnisse an andere, effektiv größere Spezies gemacht hätte. Colonel Hatherence konnte sich sehr gut ohne Hilfe vorwärts bewegen, vielen Dank. Die drehbaren Flügelräder an der Außenseite ihres diskusförmigen Schutzanzugs brachten sie von einem Ort zum anderen.
»Aha!«, rief Braam Ganscerel. Er sprang mit langen, federnden Schritten durch die Halle und sorgte mit lässigen Stößen eines seiner Stöcke dafür, dass er der Decke nicht zu nahe kam. Es sah aus, als übte er Stabhochsprung in die falsche Richtung. »So ist es schon besser! Man schätzt die Schwerkraft immer dann am meisten, wenn am wenigsten davon zu spüren ist, nicht wahr, Duelbe?«
Der Haushofmeister lächelte breit, aber Fassin wusste, dass er diesen Ausspruch von dem Alten sicher schon mehr als ein Dutzend Mal gehört hatte. Die Juniorseher in seinem Gefolge kannten ihn offenbar noch nicht. Sie taten so, als müssten sie sich eisern beherrschen, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
Drei Doppelscheiben schwebten über einer großen gekrümmten Wolkenschlucht in einer konvexen, hundert Kilometer hohen blutroten Masse, die an eine Schneewechte erinnerte. Hoch über ihnen rasten gelbe Bänder vorbei und gewährten immer wieder einen kurzen Blick auf einen Himmel in blassem Kirschrot mit vielen spitzen Sternenpünktchen. Gelegentlich zog ein einzelner Mond wie ein weicher brauner Schneeball darüber hin. Die Flugmaschinen schwenkten in strenger Formation auf die blutrote Dampfmasse zu und verschwanden darin.
Die Sinne schalteten um. Nun nahm Fassin mühelos magnetische, radioaktive, Gravitations-und Radiostrahlung auf und setzte daraus ein Bild seiner Umgebung von mehreren Kilometern im Durchmesser und hunderten von Kilometern Tiefe zusammen. Plötzlich war das Breitlichtbild, das immer noch zur Verfügung stand, von einem riesigen, glasklaren Netz von Magnetfeldern, Strahlungs-und Gravitationsgradienten überlagert. Darunter erstreckte sich das gallertartige Geisterbild der akustischen Landschaft.
Paggs führte das Trio an. Er stürzte auf eine scharf abgesetzte Sprungschicht zu, die ein Dutzend Kilometer tiefer in Sicht kam. Die anderen folgten ihm.
Sie durchquerten eine große Blase mit relativ klarer Sicht, dann einen Schauer aus Wasserschnee. Sie tauchten tiefer, durchstießen eine Druck-und Temperaturschicht, wo Wasserregen heftig gegen die Außenhaut ihrer rotierenden Doppelräder prasselte, dann umfing sie tiefe Finsternis, die nicht einmal das Breitlicht zu erhellen vermochte, und schließlich landeten sie im warmen, dampfenden Wasserstoffschlick. Hier hüpften die Räder wie riesige Doppelkegeljojos auf und ab und schickten einander flackernde Maserbotschaften.
– Wie gefällt es dir, junger Taak ? Freust du dich, wieder nach Hause zu kommen ?
– Es ist faszinierend, stimmte Taak zu. – Wo sind wir? Er befragte zweimal seine internen Navigationsinstrumente. – Zwei Äquatorialsatelliten weiter in der Horizontalen und ein Band weiter oben?
– Hör zu, Fass, begann Paggs.
– Wenn ich also Folgendes mache – sendete Fassin und ließ sein Doppelrad auf das von Paggs zuschießen. Paggs hatte erraten, was er vorhatte, und wich bereits nach rückwärts und nach oben aus. Fassins Maschine schien auf die ferngesteuerte Drohne des anderen Sehers zuzustoßen, zog sich zurück und hielt kurz vor der Stelle an, wo Paggs eben noch gewesen war. – hat man gerade genug Zeit, um aus dem Weg zu gehen, erklärte Fassin sachlich.
– Seher Taak … begann Braam Ganscerel.
– Hätte ich dagegen etwas Ähnliches auf der anderen Seite des Planeten versucht, fuhr Fassin fort, – am anderen Ende einer ganzen Satellitenkette, selbst ohne die Verzögerungen bei der Signalverarbeitung fast eine volle Lichtsekunde entfernt, dann könnten wir uns jetzt beide von unseren Drohnen anhören, dass ich zumindest jeden Anspruch auf Garantieleistungen verwirkt hätte.
– Fassin, sendete Ganscerel mit einem Seufzer. – Ich denke, wir alle sind uns der Lichtgeschwindigkeit und des Planetendurchmessers bewusst. Und diese Drohnen sind außerdem weder vollkommen dumm noch ungeschützt. Sie haben ein hoch entwickeltes Kollisionsvermeidungssystem. Wir mussten uns ausdrücklich die Erlaubnis von deinen Freunden in der Justitiarität holen, um es einbauen zu lassen, es steht so dicht davor … intelligent zu sein.
– Aber was ist, wenn ein Dweller nur so zum Spaß einen Laser auf Sie richtet ?, fragte Fassin. – Nur weil er sehen will, wie Sie zurückzucken? Was nützt Ihnen dann das Kollisionsvermeidungssystem ?
– Vielleicht, empfahl Ganscerel milde, – sollte man sich mit einer Sorte von Dwellern, von denen ein solches Verhalten zu erwarten ist, erst gar nicht einlassen.
Leider sind das diejenigen, von denen man am ehesten interessante Infos bekommt, alter Mann, nicht die vertrockneten, harmlosen aber auch ahnungslosen hirnweichen Exemplare, denen du die ganze Zeit den Hof machst, dachte Fassin. Er war ziemlich sicher, dass es nur ein Gedanke war. Die Leute machten sich immer Sorgen, weil man im VR Dinge sagen konnte, die man nur denken wollte, aber er war, was die Besonderheiten von Fern-Trips anging, nicht so eingerostet, dass ihn das wirklich belastet hätte. Außerdem täte es Braam Ganscerel vielleicht ganz gut, wenn er hin und wieder ein paar Dinge zu hören bekäme, die man höflicherweise nicht aussprechen konnte.