Skrits waren die aller Wahrscheinlichkeit nach mythischen Wesen, denen die Dweller immer die Schuld gaben, wenn irgendwo in ihrer Umgebung etwas Schlimmes passierte. Die Menschen, die als Letzte den Stab übernommen hatten und die Dweller-Forschung weiterführten, hatten schon früh die Vorstellung der Skrits aufgegriffen, um die vielen Störungen zu erklären, denen alle Interaktionen mit – oder sogar in der Nähe der – Dweller unterworfen waren. Die Alternative wäre gewesen, die angeborene Fahrlässigkeit der Dweller in technischen Dingen und ihre natürliche Unlust, wenn es darum ging, Maschinen zuverlässig in Stand zu halten, für ansteckend zu halten.
Fassin klopfte auf die schwarze Flanke des dicken, pfeilspitzenförmigen Gasschiffs. Es war seine eigene Maschine, speziell für und teilweise von ihm selbst entworfen. Das Schiff war etwa fünf Meter lang, vier Meter breit, wenn man die außenbords angebrachten Steuertriebwerke mitrechnete, und knapp zwei Meter hoch. Der Rumpf war völlig glatt bis auf die Stoßfugen verschiedener Manipulatoren und Steuerungsräder, einige Sensorausbuchtungen und den Triebwerksblock am Heck, dessen Turbinenschaufeln momentan noch eingeklappt waren. Fassin fuhr mit der Hand über die Backbordschwanzflosse. »Alles startklar, Herv?«
»Ganz und gar«, antwortete Apsile. Er war schwarz wie ein Nubier, schlank, aber muskulös, und hatte einen glänzend kahlen Schädel. Nur ein paar Fältchen um die Augen ließen ungefähr erkennen, wie alt er war, und er war sehr alt. Etwa einmal im Jahr, vor der jährlichen Ganzkörperdepilation – eine Genbehandlung war ihm ein zu schwerer Eingriff – erschien ein weißer Stoppelpelz auf seiner Kopfhaut, und der sah aus wie ein Himmelsabschnitt voller Sterne. »Und was ist mit Ihnen?«, fragte er.
»Ach, ich bin ebenfalls startklar«, erklärte Fassin. Er war soeben von der letzten Tagesbesprechung mit den Leuten von der Aktuellen Dweller-Lage zurückgekommen. Ihr anspruchsvoller Auftrag lautete, er solle versuchen, auf dem Laufenden zu bleiben, was das Geschehen in der vollkommen chaotischen Dweller-Gesellschaft anging, und nebenbei den Standort der großen Dweller-Gebäude und -Einrichtungen und – ganz besonders – den Aufenthaltsort Interessanter Individuen zu verfolgen.
Es gab schlechte Nachrichten: zwischen Zone Zwei und Gürtel C braute sich ein Formalkrieg zusammen, zumindest löste sich eine langlebige Sturmformation zwischen Zone Eins und Gürtel D gerade auf, während sich anderswo zwei neue Formationen aufbauten, und die Interessanten Individuen hatten in letzter Zeit eine ausgeprägte Wanderlust an den Tag gelegt. Man könnte es auch Sprunghaftigkeit nennen. Was den Aufenthaltsort von Choal Valseir anging, nun ja. Der Bursche war seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen worden.
Dweller waren von jeher schwer zu verfolgen gewesen. Früher hatte man versucht, ferngesteuerte Drohnen auf einzelne Individuen anzusetzen. Aber das betrachteten die Dweller als groben Eingriff in ihre Privatsphäre, und sie hatten ein unheimliches Geschick darin, alle noch so kleinen und intelligenten Plattformen, Mikro-Gasschiffe oder Wanzen aufzuspüren und zu zerstören. Dweller konnten auch schmollen. wenn jemand verblendet genug war, etwas so Hinterhältiges zu versuchen, wurde jede Kooperation eingestellt. Manchmal für die ganze Population. Und manchmal über Jahre.
Die ›Langsamen‹-Seher von Nasqueron hatten eine recht gute Beziehung zu ihren Dwellern. Für die Begriffe der Dweller-Forschung konnte man fast von einer engen Beziehung sprechen, aber nur deshalb, weil sich die Seher bemühten, so wenig wie möglich in das Leben der Dweller einzugreifen. Im Gegenzug waren die Dweller vergleichsweise kooperativ und sendeten täglich einen aktualisierten Bericht über den Standort ihrer wichtigsten Städte, Gebäude und Einrichtungen. Dieses etwa achtstündlich eintreffende Bulletin galt in der Dweller-Forschung als sprichwörtlich – geradezu legendär – in seiner Vertrauenswürdigkeit, denn es erreichte gelegentlich Genauigkeitswerte von fast neunzig Prozent.
»Beim Sept Bantrabal alles in Ordnung?«, fragte Apsile.
»Bestens. Slovius lässt grüßen.« Fassin hatte ein paar Stunden zuvor mit seinem Onkel gesprochen und weiter versucht, ihn zum Verlassen des Herbsthauses zu überreden. Der Zeitunterschied zwischen Third Fury und ’glantine war gerade so groß, dass eine mehr oder weniger normale Unterhaltung möglich war. Auch mit Jaal hatte er gesprochen, sie hielt sich auf der anderen Seite von ’glantine im Frühlingshaus ihres Sept auf. Auf ’glantine ging das Leben einigermaßen normal weiter, der neue Notstand beeinflusste die Menschen dort offenbar weniger als auf Sepekte.
Apsile zog einen Rollbildschirm aus seinem Ärmel und tippte auf einige Felder. Dann schaute er nach oben zu dem Absetzschiff, das über dem kleinen Gasschiff stand und nur darauf wartete, es in seinen offenen Frachtraum aufzunehmen und in die Gasriesen-Atmosphäre hinunterzubringen. Fassin folgte dem Blick des Meistertechnikers. Im Frachtraum hing bereits eine schwarze Gestalt, sie ragte daraus hervor wie ein dickes Rad. Er runzelte die Stirn. »Das sieht ganz wie Colonel Hatherence aus«, sagte er.
»Gibt nicht viele Stellen, wo sie reinpasst«, murmelte Apsile.
»Wie bitte?«, dröhnte eine Stimme. Dann, etwas leiser: »Mein Name? Ach so. Ja, ich bin es. Seher Taak. Major Taak, sollte ich sagen. Hallo. verzeihung. Bin eingeschlafen. Nun, manchmal muss das sein. Ich dachte, ich probiere mal aus, ob dieser Raum hier groß genug ist. Passt sehr gut, muss ich sagen. Ich kann auf diesem Schiff notfalls ohne Probleme in die Atmosphäre von Nasqueron befördert werden. Glaube ich jedenfalls. Sie auch, Meistertechniker?«
Apsile lächelte breit und zeigte dabei Zähne, die so schwarz waren wie seine Haut. »Ich glaube auch, Madame.«
»Dann sind wir uns einig.« Der Riesendiskus ließ sich innerhalb des deltaförmigen Transporters an seiner Aufhängung so weit nach unten fallen, dass er sich ihnen zuwenden konnte. »Schön. Major Taak. wie steht es um Ihre Bemühungen, den Obersten Seher Braam Ganscerel davon zu überzeugen, dass er Ihnen einen ›realen Trip‹ gestatten sollte?«
Fassin lächelte. »Sie haben Ähnlichkeit mit einem Langzeit-Trip, Colonel ; es geht überaus langsam.«
»Wie schade!«
Apsile berührte ein Feld auf seinem Rollschirm, schob den Schirm wieder in den Ärmel zurück und deutete auf das kleine Gasschiff. »Es ist fertig. wollen wir es einladen?«, fragte er.
»Warum nicht?« Es war fast schon Tradition, dass Apsile und Fassin das Schiff in den Transporter hoben. Sie bückten sich, packten jeder ein Ende und hievten – zunächst sehr langsam – die Pfeilspitze nach oben. am Ende hoben sie mit den Füßen vom Boden ab und ließen sich mitziehen, um den Schwung etwas abzubremsen. Bei Third Furys minimaler Schwerkraft wog das Gasschiff fast nichts, aber seine Masse betrug mehr als zwei Tonnen, und der Trägheits-wie der Impulssatz blieben gültig. Sie wurden drei Meter weit in den Frachtraum des Absetzschiffs getragen, direkt in die Arme des wartenden Halteschlittens für das Gasschiff. Der Schutzanzug des Colonels nahm zweimal so viel Platz ein wie das kleine Gasschiff, dennoch hätte man in diesem Raum noch fünf weitere Schiffe unterbringen können. Die Pfeilspitze rastete neben dem hohen Diskus mit Colonel Hatherence darin ein. Die beiden Männer vergewisserten sich, dass die Pfeilspitze korrekt befestigt war und ließen sich auf den Boden zurückfallen. Der Colonel schwebte mit ihnen hinab.
Fassin schaute zu dem Gasschiff mit seinen schnittigen Linien empor. Wie klein es ist, dachte er. Ein winziger Raum, um Jahre darin zu verbringen … Jahrzehnte … sogar Jahrhunderte … Dann landeten sie. Apsile hatte mehr Erfahrung und bekam die Kniebeuge genau richtig hin. Fassin prallte einmal ab.
Der riesige Schutzanzug musste sich schräg legen, um die offenen Frachtraumtüren passieren zu können, dabei kippte er etwas zu weit ab und stellte sich mit schwirrenden Flügelrädern und einem deutlichen Luftzug wieder gerade. »Ich muss sagen, ich würde es vorziehen, direkt in die Atmosphäre einzutreten. Ich meine, tatsächlich, genauer gesagt, in der Realität«, rief der Colonel.