Fassin riss sich von seinem blutbespritzten Bein los. »Ist das Wirklichkeit?«, fragte er.
Das Männchen seufzte. »Mr. Taak«, sagte es und blickte auf einen Schirm, »Laut Ihrem Profil kommen Sie aus einer angesehen Familie und könnten eines Tages sogar zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft werden. Sie hätten sich von den Leuten, mit denen Sie seit einiger Zeit zusammenhausen, besser fern gehalten. Sie alle haben sich sehr töricht benommen, und nun müssen andere unter Ihrer Torheit leiden. Sie haben lange Zeit in einem Traum gelebt, doch dieser Traum ist nun zu Ende. Das ist amtlich. Ich finde, Sie sollten nach Hause gehen. Meinen Sie nicht?«
»Wo sind meine Freunde?«
»Mr. Iifilde, Mr. Resiptiss, Ms. Cargin und Ms. Hohuel?«
Fassin starrte ihn sprachlos an. Scheiße, er war seit Monaten hier, aber er kannte immer noch nicht mehr als die Vornamen. Dies waren vermutlich die Familiennamen von Thay, Sonj und Mome, aber er hatte wirklich keine Ahnung. Hatte der Mann nicht vier Namen genannt? Hieß das, dass er auch K mitzählte? Aber sie war doch gar nicht mit auf der Demo gewesen?
»Entweder werden sie anderswo festgehalten, oder man hat ihre Personalien aufgenommen und sie gehen lassen, oder sie werden noch gesucht.« Das Männchen lächelte.
Fassin betrachtete seine Arme in den Metallreifen. Er versuchte vergeblich, seine Beine zu bewegen, beugte sich vor und schaute nach unten. Auch seine Beine waren angekettet. Oder er trug Fußfesseln. Sein Mund fühlte sich ganz fremd an. Wieder fuhr er mit der Zunge prüfend über die Stellen, wo seine Zähne gewesen waren. Wahrscheinlich musste er sich ein Provisorium machen lassen, bis die neuen nachgewachsen waren. Oder er gewöhnte sich an, wie ein Pirat zu grinsen. »Womit habe ich diese Behandlung verdient?«, fragte er.
Der Kleine sah ihn ungläubig an. Er schien schon im Begriff, Fassin mit einer neuen Schmerzwelle zu bestrafen, doch dann schüttelte er nur frustriert den Kopf. »Sie haben an einer gewalttätigen Demonstration gegen den Diegesian teilgenommen«, sagte er.
»Aber ich war doch nicht gewalttätig«, verteidigte sich Fassin.
»Sie persönlich vielleicht nicht. Aber die Demonstration ganz sicher.«
Fassin hätte sich gern den Kopf gekratzt. »Und das genügt schon?«
»Natürlich!«
»Wer hat als Erster Gewalt eingesetzt?«, fragte er.
Der Kleine breitete ruckartig die Arme aus. Seine Stimme wurde schrill. »Spielt das eine Rolle?«
Fassin hatte gemeint, welche Seite, aber der Kleine hatte wohl geglaubt, er frage nach einem bestimmten Demonstranten. Fassin seufzte. »Hören Sie, ich möchte nur zurück zu meinen Freunden, in mein Nest. Kann ich jetzt gehen? Ich habe nichts getan. Man hat mir die Zähne ausgeschlagen, ich kann Ihnen nichts sagen … gar nichts …« Er seufzte wieder.
»Sie können gehen, wenn Sie hier unterschrieben haben.« Der kleine Mann drehte den Schirm, so dass Fassin ihn sehen konnte. Er las sich die Aussage durch und sah sich die Fingerabdruckkissen und die Kamerafelder auf dem Bildschirm an, die bestätigen sollten, dass wirklich er es war, der die Unterschrift leistete (oder genauer gesagt den Speicherumfang der gefälschten Aussage geringfügig vergrößerte.)
»Ich kann das nicht unterzeichnen«, sagte er. »Im Grunde steht hier, dass alle meine Freunde Beyonder-Agenten sind und den Tod verdienen.«
Der Kleine verdrehte die Augen. »Würden Sie bitte genau lesen? Hier steht lediglich, dass Sie einen Verdacht in dieser Richtung hegen. Sie glauben doch nicht ernsthaft, sie könnten allein durch Ihre Aussage irgendjemanden einer Straftat überführen ?«
»Aber warum soll ich dann überhaupt …?«
»Wir wollen, dass Sie zum Verräter werden!«, rief der kleine Mann, als läge das nun wirklich auf der Hand. »Wir wollen, dass Sie diesen Existenzen den Rücken kehren und ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden. Das ist alles.«
»Aber sie sind meine Freunde.« Fassin musste husten und schluckte krampfhaft. »Könnte ich vielleicht einen Schluck Wasser bekommen?«
»Nein. Und es sind nicht Ihre Freunde. Es sind nur Leute, die Sie kennen. Nicht einmal richtige Bekannte. sie haben sich mit ihnen betrunken, waren mit ihnen high, haben hin und wieder mit ihnen diskutiert und mit einigen auch Geschlechtsverkehr gehabt. Wahrscheinlich werden Sie alle sowieso schon bald getrennte Wege gehen und sich wahrscheinlich aus den Augen verlieren. Es sind nicht Ihre Freunde. Finden Sie sich damit ab.«
Fassin hütete sich, in dieser Situation den Begriff Freundschaft genauer unter die Lupe zu nehmen. »Trotzdem werde ich sie nicht verraten.«
»Die anderen haben es mit Ihnen bereits getan.«
Der kleine Verhörbeamte holte den Schirm zu sich heran, drückte ein paar Tasten und schob ihn Fassin wieder zu. Nun konnte er sehen, wie Thay, Sonj und Mome – alle waren an ähnliche Stühle gefesselt wie er, und Sonj wirkte ziemlich angeschlagen – aussagten, sie hielten Fassin für einen Beyonder-Sympathisanten, er sei eine Gefahr für die Gesellschaft und müsse beobachtet werden. Jeder murmelte etwas in diesem Sinne, unterschrieb auf dem Bildschirm und drückte den Daumen auf das Abdruckkissen. (Sonj hinterließ einen Blutfleck.)
Die Aufzeichnung erschütterte ihn. Obwohl sie wahrscheinlich eine Fälschung war. Er lehnte sich zurück. »Das ist doch getürkt«, stammelte er.
Der Kleine lachte. »Sind Sie verrückt? Warum sollten wir diesen Aufwand betreiben?«
»Ich weiß es nicht«, gab Fassin zu. »Aber ich kenne meine Freunde. Sie würden nie …«
Der Kleine beugte sich vor. »Dann unterschreiben Sie doch, und sollte der höchst unwahrscheinliche Fall eintreten, dass das Dokument jemals wieder auftaucht, dann sagen Sie einfach, wir hätten Ihre Aussage gefälscht.«
»Und wieso fälschen Sie sie dann nicht gleich?«, rief Fassin.
»Weil Sie dann Ihre Freunde nicht verraten hätten!«, schrie der Kleine zurück. »Nun los! Unterschreiben Sie endlich, dann können Sie gehen. Ich habe wahrhaftig Besseres zu tun.«
»Wieso machen Sie das eigentlich?«, fragte Fassin. Er war den Tränen nahe. »Wieso zwingen Sie die Leute, ihre Freunde zu verraten?«
Der kleine Mann betrachtete ihn einen Moment. »Mr. Taak«, sagte er dann demonstrativ geduldig und lehnte sich zurück. »Ich habe mir Ihr Profil angesehen. Sie sind nicht dumm. Irregeleitet, idealistisch, naiv, gewiss, aber nicht dumm. Sie müssen doch wissen, wie eine Gesellschaft funktioniert. Sie müssen zumindest eine Ahnung haben. Es geht nur mit Druck, mit Macht, mit Zwang. Die Leute benehmen sich nicht deshalb gut, weil sie nett sind. Das ist der Trugschluss der Liberalen. Die Leute benehmen sich gut, weil sie sonst bestraft werden. Das ist allgemein bekannt. Niemand kann es bestreiten. Eine Zivilisation, eine Gesellschaft, eine Spezies nach der anderen zeigt dieses Muster. Gesellschaft bedeutet Kontrolle: Kontrolle bedeutet Strafe und Belohnung. Belohnung bedeutet, an den Früchten der Gesellschaft teilhaben zu können und, eine allgemeine Regel, die aber durchaus gebrochen werden kann, nicht ohne Grund bestraft zu werden.«
»Aber …«
»Halten Sie den Mund! Das alberne Problem, über das Sie sich beschweren wollen – die Eigentumsrechte an einem Habitat – hat in Wirklichkeit gar nichts mit Ihnen zu tun. es ist eine juristische Frage, die nur den Besitzer angeht. Sie wurden nicht einmal hier geboren und wären höchstens noch ein paar Monate geblieben, geben Sie es doch zu. Es wäre besser gewesen, sich rauszuhalten. Sie haben sich anders entschieden, Sie wollten Unruhe stiften, und jetzt müssen Sie dafür bezahlen. Unter anderem, indem Sie uns zeigen, dass Sie sich aufrichtig von den Leuten distanzieren, mit denen Sie gemeinsame Sache gemacht haben. Wenn Sie uns davon überzeugt haben, können Sie gehen. Nach Hause, wie ich empfehlen würde. Ich meine, nach ’glantine.«