»Und wenn ich nein sage?«
»Sie meinen, wenn Sie nicht unterschreiben?«
»Ja.«
»Ernsthaft?«
»Ernsthaft.«
»Dann liegt Ihr Fall nicht mehr in meiner Hand. Dann kommen Sie zu Leuten, die so etwas gerne tun.«
Als der Kleine diesmal die Hand über den Schreibtisch bewegte, schrie Fassin vor Schmerz. Er musste sich auf die Zunge gebissen haben, denn er schmeckte Eisen, und sein Mund füllte sich mit frischem Blut und heißem Speichel.
»Mir«, sagte der Kleine müde, »macht es nämlich keinen Spaß.«
Am Ende unterschrieb Fassin doch. Er hatte es irgendwie geahnt.
Das Männchen schien sich darüber zu freuen, und zwei hünenhafte Wärterinnen kamen herein, lösten Fassin die Fesseln und halfen ihm aus dem Stuhl.
»Vielen Dank, Mr. Taak«, sagte das Männchen und schüttelte ihm die Hand, bevor ihn die Frauen aus dem Zimmer führten. »Ich hasse es, so unfreundlich zu sein, und es tut immer wieder gut, wenn jemand vernünftig ist. Bitte denken Sie nicht zu schlecht von mir. Ich wünsche Ihnen viel Glück.«
Man duschte ihn, versorgte seine Verletzungen, und nach einer ärztlichen Untersuchung bekam er einen Teller Suppe und einen papierdünnen Overall und konnte gehen. Als man ihn durch die Türen ins Freie führte, soweit in einem Habitat davon die Rede sein konnte, sah er sich um. Er war irgendwo im Palast des Diegesian gewesen.
Im Nest ging alles drunter und drüber. Die Räume waren geplündert und verwüstet worden, alles war zerbrochen oder mit einem stinkenden, zum Erbrechen reizenden Schaum besprüht, der sonst zur Massenkontrolle eingesetzt wurde. Sie gingen in eine Bar, aber sie redeten nicht über das, was nach der Demonstration und ihrer Niederschlagung geschehen war. Stattdessen erzählten sie von Gerüchten über Leute, die angeblich getötet worden oder spurlos verschwunden waren.
K war nicht dabei. die Soldaten hatten sie brutal zusammengeschlagen, als sie das Nest ausgehoben hatten. Sie lag drei Wochen auf einem Gefängnislazarettschiff, und am Tag ihrer Entlassung nahm sie sich mit einer Glasscherbe das Leben.
Erst Monate später erfuhr Fassin, was wirklich mit K geschehen war. Man hatte sie in einen Horror-T-Traum geschickt. Jemand, der mit den Polizisten gekommen war – vielleicht auch einer von ihnen, der mit der T-Traum-Apparatur umzugehen wusste – hatte sie gefunden, noch schwimmend, noch nicht aus dem T-Traum-Trip erwacht und hatte die Einstellungen am Traumalysator und am Narko-Infusor verändert. Währenddessen hatten andere sie festgehalten und waren über sie hergefallen. Wer immer die Sache mit dem Traumalysator gedreht hatte, musste Vorlagenchips dieser Art genau für solche Fälle bei sich getragen haben. Dann hatte man sie blutüberströmt und gefesselt in einen Albtraum geschickt, in dem sich Szenen des Grauens, vergewaltigungs-und Folterepisoden im Zeitraffer aneinander reihten.
Die alte Gruppe hatte sich aufgelöst, jeder hatte sich eine andere, zumeist verantwortungsvollere Tätigkeit gesucht, als sie sich das alles zusammenreimten. Sie wollten Beschwerde einreichen, eine Untersuchung fordern, öffentlich protestieren. Aber es blieb bei der Absicht.
Fassin flog nach ’glantine und schrieb sich für den Einführungskurs für Seher im übernächsten Semester ein. Dann kehrte er nach Sepekte zurück, besuchte zuerst die Habs und stürzte sich dann in Boogeytown in wilde Exzesse. Alkohol, Drogen, hemmungsloser Sex. Nach einer Weile zog er ganz allmählich und sehr vorsichtig Erkundigungen ein, trieb sich in einschlägigen Kneipen herum und traf sich mit bestimmten Leuten. Offenbar bestand er dabei einige Prüfungen, ohne es zu merken, und eines Nachts stellte man ihn einem Mädchen vor, das sich Aun Liss nannte.
»Fassin!«
Sein Name rüttelte ihn wach. Third Fury; die Kabine. Stockfinstere Nacht. Klirrende Geräusche. Der Bildschirm zeigte Stunde Vier. Ein rotes Licht blinkte. Hatte jemand mit ihm gesprochen?
»Was ist?«, fragte er, riss sich die Gurte ab, stemmte sich aus dem Bett und schwebt in die Kabinenmitte.
»Herv Apsile«, sagte eine Stimme. Hörte sich auch an wie Apsile. wie ein ziemlich aufgeregter oder erschütterter Apsile. »Wir stecken in Schwierigkeiten. Sieht ganz nach einem Angriff aus.«
Verdammte Scheiße! Fassin schlüpfte in seine Kleider und verlangte volles Licht. »War dieses verdammte Scheppern der Alarm?«
»Ganz recht.«
»Sie sind in der Kommandozentrale der Anlage?«
»Ja.«
»Wer mag das sein?« Über einem Gepäckfach leuchtete ein Lämpchen auf, das Fach drehte sich, ein Schutzanzug wurde sichtbar.
»Keine Ahnung. Zwei Schiffe sind bereits verdampft. Steigen Sie in den Anzug und …«
Die Lichter – alle Lichter – flackerten. Der Schirm wurde nicht wieder hell. Ein Zittern durchlief die Kabine. Im Bad zerbrach etwas mit scharfem Klirren.
»Spüren Sie das? Sind Sie noch da?«, fragte Apsile.
»Zweimal ja«, sagte Fassin und betrachtete den Anzug.
»Steigen Sie in den Anzug und begeben Sie sich durch einen Fallschacht in den Schutzraum.« Apsile hielt inne. »Haben Sie verstanden?« Wieder eine Pause. »Fass?«
»Hier.« Fassin zerrte sich seine Kleider wieder vom Leib. »Haben Sie das auch vor, Herv?«
»So verlangen es die Vorschriften.«
Wieder erbebte die ganze Kabine. Die Luft wabbelte wie Gelee.
Der Alarm verstummte. Aber das konnte Fassin seltsamerweise nicht beruhigen.
Der Bildschirm blinkte kurz auf, ein Kreischen war zu hören.
Fassin zerrte den Anzug aus dem Spind. »Wie steht’s mit dem Haupthangar?«, fragte er.
»Ist intakt. Die Geschosse scheinen aus der Rotationsrichtung von Nasq zu kommen, leicht nach hinten verschoben.«
»Wenn wir das Zentrum ansteuern, werden wir also näher herangetragen«, überlegte Fassin. war das ein Luftzug? Er hörte ein Zischen. Er legte sich den Interfacekragen des Schutzanzugs um, der Gelhelm entfaltete sich. Für einen Moment trübte sich der Blick, es wurde ganz still, dann entschied der Helm, die Gefahr sei noch nicht allzu groß, und öffnete Schlitze, durch die Fassin atmen, sprechen und hören konnte. Die Gesichtsmaske klarte auf, bis sie fast durchsichtig war.
»Im Moment schon«, stimmte Apsile zu. »Wenn die Richtung des feindlichen Feuers konstant bleibt, sind wir in zwei Stunden genau im Schussfeld.«
Fassin stieg in den Schutzanzug, zog ihn hoch und wartete, bis er sich mit dem Kragen verbunden hatte und der Anzug sich leise schmatzend an seinen Körper schmiegte. Eigentlich sehr bequem. »Und das ist wirklich Ihr Ernst, Herv? Sie wollen zusammen mit allen anderen wie die Maus im Loch hocken und hoffen, dass die Katze wieder abzieht?«
»So lauten die Befehle.«
»Ich weiß. Und nun raten Sie mal, was ich tun möchte.« Eine Pause trat ein. Ein weiteres, noch heftigeres Beben erschütterte die Kabine. Die Hauptluke sprang nach innen auf, schwankte hin und her. Man konnte in den Korridor hinaussehen. Die Pause zog sich in die Länge. »Herv ?«, fragte Fassin. Er sah sich um, ob er etwas mitnehmen wollte. Nichts. »Herv?«
»Wir treffen uns dort.«
Vor Nasquerons seitlich angestrahlter Oberfläche zuckte ein harter, bläulich weißer Blitz auf. Der Hangar verwandelte sich in ein Labyrinth aus gezackten, grell erleuchteten Flächen und tiefschwarzen Schatten. Fassin zuckte zusammen: Der Blitz wurde gelb, dann orange und erlosch; zwischen dem Mond und Nasqueron stand eine kleine matte Sonne.
Herv Apsile war vor Fassin eingetroffen. Er winkte ihm kurz zu, übersprang locker die acht Meter zur offenen Nasenkuppel der Trägermaschine und verschwand darin. Die Kanzel schloss sich.
»Herv?«, fragte Fassin, um die Notverbindung seines Anzugs zu testen. Keine Antwort. Er näherte sich in langsamen Sprüngen dem offenen Frachtraum. Colonel Hatherence war bereits dort. Ihr hoher diskusförmiger Schutzanzug schwebte dicht über dem Boden, genau an der gleichen Stelle wie vor einigen Stunden.