»Seher Taak! Ich dachte mir doch, dass Sie sich so entscheiden würden!«, rief sie.
Scheiße, dachte Fassin. Er hatte gehofft, der Colonel hätte wie alle anderen die Anweisungen befolgt und sich in den Schutzraum begeben, der sich 10 Kilometer tiefer im Kern des Mondes befand. Es musste doch wohl einen Fallschacht geben, der groß genug war? Na schön. Er kam unter dem kleinen Pfeilspitzenschiff zum Stehen, das über ihnen in seinem Schlitten hing, und nickte ihr zu. »Colonel.«
Würde sie versuchen, ihn aufzuhalten? Er wusste es nicht. Könnte sie es? Kein Zweifel.
»Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder entsetzt sein soll«, rief der Colonel. Aus dem Oerileithe-Schutzanzug löste sich ein Manipulator-Arm und klappte in Fassins Richtung aus. Verdammt, dachte er. Es geht schon los.
»Nach Ihnen !«, sagte der Colonel und deutete mit dem Arm nach oben.
Fassin lächelte und stieß sich ab. Sie schwebte mit schwirrenden Flügelrädern neben ihm nach oben. An der Decke des Frachtraums hielt er an, stützte sich ab und klappte das Cockpit des Gasschiffchens auf. Ein sargförmiger Raum wurde sichtbar. Er schlüpfte aus dem Anzug und löste den Helm.
»Runter mit der Uniform, Major«, sagte der Colonel leutselig. Ihre Stimme hallte von den Wänden des Frachtraums wider. Fassin ließ den Anzug langsam zu Boden fallen und trat in das Cockpit des kleinen Pfeilschiffs. »Du meine Güte!«, sagte Hatherence. »Haben alle menschlichen Männer diese Form?«
»Nur wenn sie gut aussehen, Colonel«, versicherte er ihr und ließ sich vorsichtig in das kühle Gel sinken. Das Dach schloss sich über ihm. Er rutschte im Dunkeln hin und her, um seinen Hals über dem Scannerkragen zu platzieren. Ein weiches Licht leuchtete auf, ein leiser Klingelton bestätigte ihm, dass alles in Ordnung war. Er griff nach der Doppeldüse der Kiemenwasserschlauchs, holte tief Atem, ließ ihn wieder ausströmen und steckte die Düsen in seine Nasenlöcher.
Fassin legte sich zurück, machte sein Bewusstsein so leer, wie er nur konnte und unterdrückte die Panik und den Würgereiz, als das Kiemenwasser, kalt wie das kälteste Eisgetränk aller Zeiten, in seine Nase, durch seine Kehle und in seine Lungen floss.
Für einen Moment war er verwirrt, desorientiert. Dann schmiegte sich der Kragen fester um seinen Hals, und das wärmende Gel schloss sich über seinem Körper und schickte seine Fühler in Ohren, Mund, Penis und Anus. Zwei schmerzhafte Stiche an den Unterarmen und je einer unter jedem Ohr – die Blutentnahmen.
»Fertig?«, gurgelte Herv Apsiles Stimme in seinen Ohren. Das Gel hatte sich noch nicht richtig gesetzt.
– Gründlich, sendete er nur in Gedanken. – Was ist mit dem Colonel?
›Ich bin ebenfalls fertig!‹ Colonel Hatherences Stimme klang selbst über Funk überlaut.
Fassin hatte überlegt, ob er sie nicht irgendwie abschütteln könnte. aber es sah nicht danach aus.
»Ich schließe jetzt die Frachtraumtüren. Bereit zum Start«, sagte Apsile.
Fassin und sein Gasschiffchen wurden eins. Es bedeckte ihn, umfing ihn, drang an vielen Stellen in ihn ein und unterwarf sich ihm dabei vollkommen. Das Licht von unten verschwand, als die Türen zuglitten. fassin sah Colonel Hatherences Schutzanzug neben sich hängen, spürte seine Kälte und las seine elektromagnetischen Signaturen. Ebenso deutlich spürte er, wie sich die Systeme des Absetzschiffes bereit machten und erwartungsvoll die Muskeln spielen ließen, als das Schiff abhob. Mit anderen Sinnen registrierte er einen ungewöhnlichen Schwall von Strahlung, ein schwaches Schwerkraftfeld in einem sehr viel größeren und tieferen Trichter, eine Wolke von zusammenhanglosen Funkspruchfetzen, wirren Übertragungen und EM-Signalen vom Stützpunkt der Gemeinschaftsanlage – dann gab es einen plötzlichen Ruck, einen massiven, durch die Übertragung gedämpften Schlag, gefolgt von einer seltsam saugenden Seitwärts-Aufwärts-Bewegung. während er wartete, dass Apsile sich meldete, versuchte er selbst herauszufinden, was vorging. von ferne hörte er, wie das Trägerschiff mit leisem Zischen Luft in seinen Frachtraum pumpte.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Apsile freundlich. »Bin wieder am Ruder. ziemlich ungewöhnliche Methode, den Hangar zum Vakuum zu öffnen. Keine Ahnung, wer dafür verantwortlich ist.«
– Mit uns alles okay?, fragte Fassin.
»KGS«, antwortete Apsile. Es klang etwas verstört. »Keine Größeren Schäden.«
– Dann machen Sie mal weiter, sendete Fassin.
»Danke.«
»Erleichterung streichen, Entsetzen betonen«, kommentierte der Oberst.
Fassin hoffte, dass sie nur mit ihm redete. Er überprüfte alle Einstellungen und Systeme des kleinen Gasschiffs und machte es sich darin ebenso bequem, wie es die Fühler der Lebenserhaltung in seinem Körper taten. Vom unteren Augenrand schwamm eine größere Lichterkette nach oben und wurde scharf. Er rief ein paar Anzeigen ab und startete mehrere Subroutinen, um sich zu vergewissern, dass alles funktionierte. Alles klar.
Er spürte, wie das Trägerschiff beschleunigte. Der Mond blieb hinter ihnen zurück. Eine Verbindung zu den Sensoren des größeren Schiffes erschien als Option auf seinen Armaturen, und er aktivierte sie.
Jetzt konnte er das Gleiche wahrnehmen wie Apsile.
Nasqueron füllte den Himmel vor und über ihm, die graubraune Oberfläche von Third Fury entfernte sich rasch nach unten. Schuttwolken. Fetzen von Funkverkehr. Mehr, als es in einer gut organisierten kleinen Flotte wie der geben sollte, die sie hierher gebracht hatte und seither den Mond bewachte. Keine Spur von Radarstrahlen oder anderen verdächtigen Ortungsversuchen. Wobei eine Zivilmaschine wie das Trägerschiff ohnehin nur detektieren konnte, was ohnehin schon grell ins Auge stach. Keine aktuellen Schadensmeldungen, nur Aufzeichnungen von kleinen Rumpftreffern, kaum mehr als Lochfraß. Spuren von Raumschifftriebwerken. Jäh aufflammende und wieder erlöschende Strahlung, als ein Schiff ein paar hundert Kilometer entfernt scharf abdrehte. Signalzyklen verbreiteten die Botschaft, man sei unbewaffnet und beanspruche Rettungsbootstatus. Ein Blitz! Genau von hinten. Auf der Oberfläche von Third Fury erhob sich ein nahezu halbkreisförmiger, glitzernder Schuttring über einem neuen, weiß glühenden Krater von etwa einem halben Kilometer Breite. Nun kamen drei kleinere Krater in Sicht, auch sie waren noch frisch, glühten aber nur noch orange und rot. Das Bild drehte sich, linien-und Rasteroverlays und Triebwerkssymbole leuchteten auf.
Apsile richtete die Nase des Trägers auf Nasqueron und flog in einer langen, gezielt unregelmäßigen Spirale auf den Gasriesen zu. Dabei beschleunigte er so stark, wie die Triebwerke des Absetzschiffs es zuließen.
Das Absetzschiff war keine hochgerüstete Militärmaschine; es hatte lediglich die Aufgabe, das Gasschiff von der Anlage zum Gasriesen zu bringen und später wieder abzuholen. Seine robuste Konstruktion war den Spannungen innerhalb von Nasquerons Schwerkraftfeld und den wechselnden Drücken bis hinunter zur Flüssigwasserstoffschicht gewachsen, und seine Triebwerke waren stark genug, um es samt seinen Schutzbefohlenen ohne Schwierigkeiten wieder aus Nasquerons Schwerkraftschacht zu heben. Aber es war nicht besonders wendig, hatte weder Panzerung noch Verteidigungswaffen und war nicht nur nicht getarnt, sondern ganz gezielt so gebaut, dass es mit möglichst vielen verschiedenen Sensoren möglichst gut sichtbar war. Kein boshafter Dweller sollte es zum Spaß beschießen und hinterher behaupten können, er bedauere, aber er hätte es nicht gesehen.
»Wie geht es da unten?«, fragte Apsile. Es klang unbekümmert, als habe er alles im Griff.