Macht war alles. Geld ohne Macht war nichts. Selbst Glück war nur Ablenkung, ein flüchtiges Gespenst, ein Druckmittel. Was war schon Glück? Etwas, das man verlieren konnte. Nur allzu oft brauchte man andere Menschen, um glücklich zu sein, und verlieh ihnen damit Macht, gab ihnen eine Handhabe gegen einen selbst, die sie jederzeit nützen konnten, indem sie einem wegnahmen, was immer einen glücklich gemacht hatte.
Lusiferus hatte Glück erlebt, und er hatte erlebt, wie es ihm genommen wurde. Sein Vater, der einzige Mensch, den er jemals bewundert hatte – obwohl er den alten Dreckskerl hasste –, hatte sich von Lusiferus’ Mutter getrennt, als sie alt und weniger attraktiv wurde. Er hatte sie, als Lusiferus kaum den Kinderschuhen entwachsen war, durch eine lange Reihe von jungen, erotisch begehrenswerten, aber seelenlosen, gleichgültigen, selbstsüchtigen jungen Frauen ersetzt, Frauen, die der Junge selbst gerne gehabt hätte, aber zugleich verabscheute. Seine Mutter wurde fortgeschickt. Er sah sie niemals wieder.
Sein Vater war in den Industriekomplexen der Leseum-Systeme als Omnokrat für die Merkatoria tätig gewesen. Er hatte ganz unten angefangen, als Pekulan (der Name bedeutet zynischerweise nichts anderes, als dass der Amtsinhaber korrupt sein musste, um anständig leben zu können, und damit ein Strafregister ansammelte, das man jederzeit aus der Schublade ziehen konnte, falls er später einmal aus der Reihe tanzen sollte). Dann war er Ovat geworden und hatte sich Stufe um Stufe bis zum Diegesian emporgearbeitet. Zunächst hatte er nur einen Stadtteil unter sich gehabt, dann eine kleine Industriestadt, eine mittlere und eine Großstadt und schließlich die Hauptstadt eines Kontinents. Er wurde Apparitor, als sein unmittelbarer Vorgesetzter in den Armen einer gemeinsamen Geliebten starb. Der Geliebten war es zunächst sehr gut ergangen – sie hatte im Grunde die Rolle seiner Gemahlin gespielt –, doch dann war sie zu anspruchsvoll geworden und hatte ebenfalls ein vorzeitiges Ende gefunden. Lusiferus’ Vater hatte seinem Sohn nie verraten, ob er sie hatte töten lassen.
Der Sohn wiederum hatte seinem Vater nie verraten, dass die Frau kurz vorher auch seine Geliebte geworden war.
Vom Apparitor stieg sein Vater zum Peregal auf. Als solcher herrschte er zunächst über einen Fab/Hab-Komplex im Orbit, dann über einen Kontinent und schließlich über einen größeren Mond. Die äußeren Zeichen von Macht, Reichtum und Prunk, die in einem aufstrebenden Verbund von Systemen wie Leseum mit einer solchen Stellung verbunden waren, fehlten natürlich nicht. An diesem Punkt hatte sein Vater zum ersten Mal in seinem Leben den Anschein erweckt, mit dem Erreichten zufrieden zu sein. Er hatte sich entspannt und angefangen, das Leben zu genießen.
Das war das Ende. Als Lusiferus’ Vater endlich zum nächsten Sprung ansetzte, um Hierchon zu werden, hatte er, der einst mit dem Verkauf von Charter-und anderen Verträgen an die Händler und Fabrikanten der vielen Systeme ein großes Vermögen gemacht hatte, sich eines Apparitors erbarmt, der gerade vom Glück verlassen war, und ihn ohne Not an einem Schmiergeldgeschäft beteiligt. Binnen eines Monats wurde er wegen schwerer Korruption angeklagt, verurteilt und geköpft. Der junge Apparitor wurde sein Nachfolger.
Lusiferus hatte schon sehr früh eingesehen, dass er seinem Vater auf dessen eigenem Gebiet niemals das Wasser würde reichen können, und da Religion und Glaube schon immer eine gewisse Anziehung auf ihn ausgeübt hatten, war er einige Jahre zuvor zur Cessoria gegangen. Als sein Vater vor Gericht stand, war er Piteer gewesen, ein Jungpriester. Man hatte ihn zu einem der Beichtväter bestimmt, und er hatte den Verurteilten zur Hinrichtung begleitet. Zunächst war sein Vater sehr tapfer gewesen, doch irgendwann war er zusammengebrochen. Er hatte zu weinen angefangen, er hatte um Gnade gefleht und das Blaue vom Himmel versprochen (obwohl er bereits alles verloren hatte). Er hatte sich laut heulend an Lusiferus geklammert und sein Gesicht in der Priesterrobe seines Sohnes vergraben. Lusiferus hatte gewusst, dass man ihn beobachtete, und dass dieser Augenblick für seine Zukunft wichtig war. Und er hatte seinen Vater von sich gestoßen.
Sein Aufstieg durch die Cessoria war rasant. Er würde nie so mächtig werden wie sein Vater, aber er war klug und tüchtig, man achtete ihn, und er befand sich in einer wichtigen, aber nicht allzu gefährdeten Region einer der größten Metazivilisationen, die die Galaxis je erlebt hatte, auf dem Weg nach oben. Damit hätte er zufrieden sein können. Solange er sich keine Blöße gab wie einst sein Vater, konnte ihm nichts geschehen.
Dann kam es zur Separation. Die Zeit des Arteria-Zusammenbruchs hatte eine wahre Schneise von Portalzerstörungen durch den von Millionen Sternen bevölkerten Raum um Leseum geschlagen. Nur die dicht beieinander liegenden Leseum-Systeme waren in diesem ausgedehnten Hinterland vernetzt geblieben. Das System Leseum9 war wichtig und wohl auch lebensfähig gewesen und hatte sich sicher gefühlt, bis es Jahrtausende später seine eigene Separation erlebte. Ausgelöst wurde sie durch einen kleinlichen Streit innerhalb der immer noch anhaltenden Wirren der Streuungskriege, eine an sich belanglose Meinungsverschiedenheit zwischen drei Parteien, die bis dahin so gut wie unbekannt gewesen waren und die auch hinterher außer im Geschichtsunterricht keine Rolle mehr spielten. Aber der Schaden war angerichtet; das Portal bei Leseum9 war zerstört, und der riesige Raumsektor war vom Rest der zivilisierten Galaxis abgeschnitten.
Damit wurde alles anders. Die alten Strategien, um an der Macht zu bleiben, galten nicht mehr, und neue Bewerber kämpften um die höchsten Positionen.
Trotz allem verdankte Lusiferus seinem Vater auf die eine oder andere Weise alles, was er wusste, und eine der wichtigsten Lehren war: es gab keinen Stillstand. Man war im Leben entweder auf dem Weg nach oben oder auf dem Weg nach unten, der Weg nach oben war immer der bessere, und am sichersten war es, andere als Trittsteine, als Plattformen, als Gerüst zu benützen. Der alte Spruch, man solle sich auf dem Weg nach oben Freunde machen, damit man welche hätte, wenn es wieder abwärts ginge, hatte zwar seine Gültigkeit, aber es war der Spruch eines Miesmachers, die Maxime eines Verlierers. Besser war es, immer weiter und immer höher zu steigen, niemals zu ruhen, niemals nachzulassen, niemals absteigen zu müssen. wenn man es ernst meinte, war die Vorstellung, was man – sofern sie noch lebten – von denen zu gewärtigen hätte, die man einst gekränkt und ausgebeutet oder denen man sonst ein Unrecht zugefügt hatte, nur ein weiterer Ansporn. Das Tempo zu drosseln oder sich gar zurückfallen zu lassen kam nicht in Frage. Ein engagierter Bewerber musste sich immer neuen Herausforderungen stellen, er musste immer neue Kämpfe bestehen, er musste immer neue Höhen erklimmen, zu immer neuen Horizonten aufbrechen.
Das Leben war ein Spiel, und so wollte es auch behandelt werden. vielleicht war das die Wahrheit hinter der ›Wahrheit‹, jener Religion, in der Lusiferus als gehorsames Mitglied der Merkatoria erzogen worden war. Nichts, was man tat oder zu tun schien, war wirklich wichtig, denn alles war – vielleicht – nur ein Spiel, eine Simulation. Letzten Endes war alles nur Theater. Sogar den Hungerleider-Kult, als dessen Oberhaupt er auftrat, hatte er nur erfunden, weil sich der Name gut anhörte. Eine Spielart der ›Wahrheit‹, gelegentlich mit einem Schuss Selbstverleugnung gewürzt, um die Leichtgläubigkeit der anderen von einer höheren Warte aus betrachten zu können. Die Leute schluckten alles, einfach alles. Manch einer mochte das bestürzend finden. Für ihn war es ein Geschenk des Himmels, eine großartige Möglichkeit, die Schwachen im Geiste auszunützen.