Und dabei war die – gelinde gesagt – unbekümmerte Sorglosigkeit, die von den Dwellern so oft an den Tag gelegt wurde, wenn es darum ging, sich auf dem Planeten zu orientieren noch gar nicht berücksichtigt. Ebenso wenig wie die (oftmals mangelnde) Hilfsbereitschaft, die ein völlig verwirrter Besucher von außerhalb traditionellerweise zu erwarten hatte.
– Ich dachte, wir wären mitten unter ihnen, sendete der Colonel.
– Unter den Dwellern?, fragte Fassin. Er studierte ein kompliziertes Diagramm, das ihm zeigen sollte, wer oder was in diesem Moment wo sein könnte.
– Ja, ich dachte, wir würden uns in einer ihrer Städte wieder finden.
Sie betrachteten die riesige Wolke aus trägen Gaswirbeln, die sich – je nach dem, auf welcher Frequenz oder mit welchem Sinn man sie wahrnahm – nach allen Seiten mehrere Meter oder mehrere hundert Kilometer weit erstreckte. Sie spürten kaum eine Bewegung, obwohl sie Teil der Äquatorzone waren und deshalb mit mehr als hundert Metern pro Sekunde um den Planeten gerissen wurden und zugleich langsam um die Fontäne kreisten und mit ihr nach oben getragen wurden.
Fassin lächelte in seiner Schockgelhülle.
– Nun, es gibt viele Dweller, aber es ist auch ein großer Planet.
Er fand es seltsam, dies ausgerechnet einem Wesen erklären zu müssen, dessen Gattung sich in solchen Planeten entwickelt hatte, und das folglich mit den Dimensionen eines Gasriesen vertraut sein sollte. Andererseits betrachteten viele Oerileithe nach Fassins zugegebenermaßen begrenzten Erfahrungen die Dweller mit widerwilliger Ehrfurcht und waren überzeugt, von Unmengen majestätischer Dweller-Gestalten und überwältigend imposanten Bauwerken umringt zu werden, sobald sie durch die oberste Wolkenschicht nach unten vordrängen (ein Irrtum, bei dem sicherlich noch kein Dweller auf die Idee gekommen war, ihn richtig zu stellen). Die Oerileithe waren nach menschlichen und nach den Maßstäben einer riesigen Mehrheit von Spezies in der entwickelten Galaxis ein uraltes Volk, aber – ihre Zivilisation reichte nur etwa achthunderttausend Jahre weit zurück – für die Dweller waren sie lediglich Eintagsfliegen.
Fassin kam ein Gedanke. – Waren Sie schon einmal in einem Dweller-Planeten, Colonel?
– Leider nein. Dieses Privileg wurde mir bisher vorenthalten. Hatherence sah sich demonstrativ um. – Eigentlich ist es fast wie zu Hause.
Noch ein Gedanke. – Sie haben aber doch die Genehmigung, Colonel? Nicht wahr?
– Was für eine Genehmigung, Seher Taak?
– Hier herunterzukommen. Nasq zu betreten.
– Ach so, sendete der Colonel. – Nicht so direkt, muss ich zugeben. Man ging davon aus, ich würde mit Ihnen und Ihren Kollegen von der Gemeinschaftsanlage vom Mond Third Fury aus virtuelle Trips unternehmen. Braam Ganscerel persönlich nahm sich die Zeit, mir das zu versichern, und gegen solche Besuche wurde auch kein Einwand erhoben. Ich glaube, man wollte erst dann eine Erlaubnis für mich einholen, wenn es nötig würde, dass ich Sie auch physisch in die Atmosphäre begleitete – was ja jetzt der Fall ist –, doch als ich das letzte Mal zu dieser Frage etwas hörte, hatte ich den Eindruck, die erforderliche Zustimmung sei noch nicht eingetroffen. Wieso fragen Sie? Rechnen Sie damit, dass das Probleme geben könnte?
Verdammter Mist.
– Die Dweller, erklärte Fassin, – sind in solchen Dingen manchmal … ziemlich pingelig. Von wegen pingelig, dachte er. Es war nicht auszuschließen, dass sie den Colonel zum Kind ehrenhalber erklärten, ihr eine halbe Stunde Vorsprung gaben und dann Jagd auf sie machten. – Sie legen großen Wert auf ihre Privatsphäre. Ungenehmigte Eintritte verbitten sie sich entschieden.
– Das ist mir bekannt.
– Tatsächlich? Gut.
– Ich werde um Asyl bitten.
– Aha. Ich verstehe.
Du bist entweder ziemlich tapfer und hast eine ordentliche Portion Humor, dachte Fassin, oder du hättest doch besser deine Hausaufgaben gemacht.
– Und wohin sollen wir uns nun wenden, Seher Fassin Taak?
– Es müsste in etwa vierhundert Klicks einen WolkenTunnel geben … in dieser Richtung,sendete Fassin und drehte das Gasschiff so, dass es ungefähr nach Süden und leicht abwärts zeigte. – Natürlich nur, wenn er nicht weitergewandert ist.
– Wollen wir?, fragte der Colonel und setzte sich in Bewegung.
Ich werde noch einen unserer Satelliten anpingen und melden, dass wir am Leben sind, teilte Fassin ihr mit.
– Halten Sie das für klug?
War es klug?, überlegte auch Fassin. Es hatte ein Angriff auf die Infrastruktur der Seher um Nasqueron stattgefunden, aber das musste nicht heißen, dass die ganze planetennahe Umgebung in feindlicher Hand war. Andererseits …
– Wie schnell kann sich Ihr Schutzanzug bewegen?, fragte er den Colonel.
– Bei dieser Dichte etwa vierhundert Meter pro Sekunde. Die Dauergeschwindigkeit ist etwa halb so hoch.
Fassins Pfeilschiff konnte da gerade noch mithalten. Enttäuschend. Er hoffte immer noch, den Colonel irgendwann abzuschütteln. Aber es sah nicht so aus, als könnte er ihr einfach davonfliegen.
– Ping abgesetzt, teilte er Hatherence mit. – Und nun los!
Sie machten sich rasch auf den Weg. Doch sie hatten noch keine hundert Meter zurückgelegt, als hinter ihnen ein violetter Blitz die Wolkendecke zerriss und ein grelles, kurzlebiges Strahlenbündel da, wo sie Sekunden vorher noch geschwebt waren, durch den Gasraum fuhr.
Weitere Strahlen breiteten sich um den zuerst angepeilten Punkt herum aus und pulsierten, langsam länger werdend, ziellos suchend durch die Atmosphäre. Einer tauchte mit lautem Knistern und Knacken etwa fünfzig Meter vor ihnen auf. Alle anderen waren viel weiter entfernt, und nach etwa einer Minute war das Feuerwerk zu Ende.
– Jemand ist offenbar nicht sonderlich gut auf Sie zu sprechen, Seher Taak, sendete der Colonel, während sie weiter durch das Gas flogen.
– Sieht ganz danach aus.
Der Blitz und die elektromagnetische Welle folgten zwei Minuten danach. Das leise Donnergrollen holte sie mit noch größerer Verzögerung ein.
– War das eine Atombombe?, sendete Fassin. Seine Instrumente ließen keine andere Deutung zu, dennoch konnte er es kaum fassen.
– Ich kenne kein Phänomen, das eine Atombombe so überzeugend nachahmen könnte.
– Hölle und Teufel!
– Ich möchte mich verbessern. Jemand ist ganz und gar nicht gut auf Sie zu sprechen, Seher Taak.
– Die Dweller werden davon nicht sehr erbaut sein, erklärte Fassin. – Nur sie allein haben das Recht, in der Atmosphäre Atombomben zu zünden, erklärte er. – Und jetzt ist nicht einmal die Zeit für Feuerwerke.
Sie fanden den WolkenTunnel etwa an der Stelle, wo Fassin ihn vermutet hatte, nur hundert Kilometer seitlich verschoben und zwei Kilometer tiefer: für Nasqueron-Verhältnisse hatte er genau ins Schwarze getroffen. Der WolkenTunnel bestand aus einem Dutzend Carbon/Carbon-Röhren, die wie ein riesiger, nur locker verbundener Kabelstrang inmitten einer unendlichen, sanft wogenden, in Gelb-, Orange-und Ockertönen spielenden Wolkenlandschaft schwebten. Die beiden Hauptröhren hatten einen Durchmesser von etwa sechzig Metern, der kleinste – der hauptsächlich Wellenleiter für Kommunikations-und Telemetrieverbindungen enthielt – maß weniger als einen halben Meter. Das ganze Bündel hatte so dünn wie ein Faden gewirkt, als sie ihn zum ersten Mal aus etwa zehn Kilometern Entfernung erblickten, doch aus der Nähe sah er eher aus wie eine Trosse, mit der man einen Mond vertäuen konnte. Aus den beiden Hauptröhren war ein tiefes, grollendes Rauschen zu hören.