– Was jetzt?, sendete der Colonel.
– Mal sehen, ob ich das mir übertragene Kudos-Guthaben noch einlösen kann.
Fassin stieß mit einem Manipulator seines Pfeilschiffs einen der Wellenleiter an und bewegte die Drähte in der Röhre, ohne die Schutzhülle zu zerreißen. Ein haarfeiner Draht streckte sich in die Lichtmatrix, die das dünne Rohr ausfüllte. Aus dem anderen Ende des Drahtes strömten Informationen in das Biobewusstsein des Gasschiffs, in die Interfacesysteme und schließlich in Fassins Kopf. Ein verschlüsseltes Chaos aus unverständlichem Geplapper, wild flimmernden Bildern und anderen wirren sensorischen Empfindungen brach über ihn herein. Die Unterbrechung in den Lichtströmen war bereits registriert worden. Ein genau auf den feinen Draht gezielter Informationsimpuls sendete eine Identitätsanfrage und erkundigte sich, ob Hilfe benötigt würde, andernfalls möge man bitte aufhören, mit einem öffentlichen Informations-Highway Unfug zu treiben.
– Ein Mensch, Fassin Taak, bei den Nasqueron-Dwellern als ›Langsamen‹-Seher akkreditiert, sendete er. – Ich bräuchte Hilfe, um vom jetzigen Standort nach Hauskip City zu gelangen.
Man wies ihn an zu warten.
»Fassin Taak, bandenloser Auswärtiger, Alien, Seher, Mensch! Und … was ist das?«
»Das ist Colonel Hatherence von der Ocula der Justitiarität, einem militärisch-religiösen Orden der Merkatoria. Sie ist Oerileithe.«
»Guten Tag, Dweller Y’sul«, sagte Hatherence. Sie hatten auf normale Akustiksprache umgestellt.
»Ein Klein-dweller! Wie faszinierend! Also kein kind?«
Y’sul, ein ziemlich großer Erwachsener mittleren Alters von gut neun Metern Durchmesser rollte durch das Gas, fuhr einen langen Spindelarm aus und klopfte mit einer Faustknolle (bing-bing-bing!) auf den Schutzanzug des Colonel.
»Halloooo da drin!«, sagte Y’sul.
Hatherences Diskus neigte sich unter dem Hagel unsanfter Schläge zur Seite. »Freut mich, Sie kennen zu lernen«, antwortete sie knapp.
»Kein kind«, bestätigte Fassin.
Sie befanden sich in einem Verdickten-Club in Hauskip City, in einem riesigen schüsselförmigen Raum mit einer Decke aus mikrometerdünnen Diamantplättchen.
Hauskip lag in der Äquatorzone von Nasqueron und war einer von hunderttausend großen Ballungsräumen in diesem Atmosphäreband. Aus dem richtigen Winkel und bei günstigem Licht betrachtet, hatte es viel Ähnlichkeit mit dem Innenleben einer antiken mechanischen Uhr, nur um mehrere tausend Mal vervielfältigt und vergrößert. Aus hinreichend großer Entfernung oder nur in einer Schemazeichnung ähnelte die Stadt Millionen von Zahnrädern, die sich ineinander verhakt hatten und mit größeren Rädern, die ihrerseits in noch größere Räder griffen, durch Naben, Dorne und Spindeln verbunden waren. Das ganze mächtige, langsam kreisende und in sich rotierende Gebilde hatte leicht zweihundert Kilometer im Durchmesser und schwebte hundert Kilometer unter der obersten Wolkenschicht in einer dicken Gassuppe.
Die Stadt war ein Knotenpunkt für mehrere WolkenTunnel-Linien. Nachdem sich ein leerer Wagen bis zu der Zugangsluke durchgekämpft hatte, die der Stelle neben dem Tunnel, wo Fassin und Hatherence ihre Zelte aufgeschlagen hatten, am nächsten war, hatten die beiden, ohne den Wagen zu verlassen, zweimal die Linie wechseln müssen, um durch das Netz von teilweise geräumten Hochgeschwindigkeitstransitröhren an ihr Ziel zu gelangen. Die ganze Reise hatte einen von Nasquerons kurzen Tag-Nacht-Zyklen gedauert. Beide hatten die meiste Zeit verschlafen, doch kurz bevor Fassin eingenickt war, hatte der Colonel gesagt: »Wir machen weiter. Meinen Sie nicht, Major? Wir setzen unsere Mission fort. So lange, bis man uns befiehlt, sie einzustellen.«
»Ganz Ihrer Meinung«, sagte er. »Wir machen weiter.«
Der Tunnelwagon hatte an einer TunnelKnospen-Wand angedockt und sich wie durch einen Schließmuskel in den Hauptbahnhof von Hauskip geschoben. Dort war er durch die gallertartige Atmosphäre geradewegs zum Club für Verdickte der Achten Progression gerast, wo Y’sul, Fassins langjähriger Führer/Mentor/Beschützer an einer Party anlässlich der Vollendungs-und Ausstoßungszeremonie eines Clubmitglieds teilnahm.
Dweller sahen am Anfang aus wie magersüchtige Mantarochen – das war die kurze kindheitsphase, in der sie gelegentlich gejagt wurden – dann wuchsen sie, wurden fett, spalteten sich in der Mitte fast bis nach unten (eine Art Pubertät) und stellten von horizontaler auf vertikale Orientierung um. Als Erwachsene sahen sie schließlich aus wie zwei große Wagenräder mit Schwimmhäuten und Flossensaum, verbunden durch eine kurze dicke Achse mit auffallend knolligen Außennaben, auf denen eine riesige Spinnenkrabbe saß.
Eine Phase des Übergangs vom frühen zum mittleren Erwachsenenstadium war die so genannte Verdickung. In diesem Stadium entwickelten sich die schmalen, zarten Scheiben der Jugend zu den kräftigen, robusten Rädern des späteren Lebens. Wenn es so weit war, trat der betreffende Dweller üblicherweise einem Club von Altersgenossen bei. an sich gab es keinen besonderen Grund, warum sich die Dweller gerade an diesem Punkt ihres Lebens zusammenrotten sollten, aber sie liebten es ganz allgemein, sich in Clubs, Bruderschaften, Orden, Ligen, Gemeinschaften, Genossenschaften, Kameradschaften, Verbindungen, Gruppen, Gilden, Allianzen, Splittergruppen, Offenbarungsvereinigungen und Freizeitvereinen zusammenzuschließen, wobei natürlich immer die Möglichkeit offen blieb, auch an spontanen, nicht zeremoniellen, zufällig und einmalig stattfindenden Veranstaltungen teilzunehmen. Die Liste an gesellschaftlichen Aktivitäten war lang.
Y’sul hatte die beiden in den mit Büchern und Kristallen gesäumten Bibliothekssaal seines Verdickten-Clubs gebeten anstatt zu sich nach Hause, damit er, wie er ihnen ganz offen erklärte, falls sie zu langweilig wären oder es zu eilig hätten, ohne große Verzögerung zu seinen Freunden zurückkehren könnte, die unten im Speisesaal beim Festbankett und der dazugehörigen Orgie waren.
»Wie schön, dass du wieder hier bist, Fassin!«, sagte Y’sul. »Warum hast du diesen Klein-dweller mitgebracht? Kann man sie essen?«
»Nein, natürlich nicht. Sie ist meine Kollegin.«
»Ach so! Aber es gibt keine Oerileithe-Seher.«
»Sie ist keine Seherin.«
»Also doch keine Kollegin?«
»Sie soll mich begleiten. Sie wurde von der Ocula der Justitiarität geschickt, dem militärisch-religiösen Orden der Merkatoria.«
»Verstehe.« Y’sul hatte seine besten Kleider an, schicker Freizeitstil mit vielen bunten Fransen und üppigen Spitzenmanschetten. Nun schaukelte er nach hinten, drehte sich ein wenig und kam wieder nach vorne. »Nein, ich verstehe gar nichts! Was rede ich denn? Was ist diese ›Ocula‹?«
»Nun ja …«
Die Erklärung dauerte eine Weile. Nach etwa einer Viertelstunde – zum Glück fand dies alles in Echtzeit statt, ohne jeden Verlangsamungsfaktor – glaubte Fassin, er hätte Y’sul so gut und umfassend informiert, wie er konnte, ohne allzu viel zu verraten. Auch der Colonel hatte hin und wieder ein paar Worte eingeworfen, aber Y’sul hatte keinerlei Notiz von ihr genommen.