Lass mich erklären, falls du es noch immer nicht kapiert hast: Ich habe die Spuren gesehen, Sal. Ich habe die drei roten Linien an deinem Hals gesehen, bevor du den Jackenkragen hochgeschlagen hast. Weißt du noch? Weißt du, wie du dich geschüttelt und ›K-Kragen‹ gesagt hast, oder so ähnlich?
Weißt du es noch? Es war nur einer von den vielen kleinen Fehlern, die man in der Situation vor lauter Angst und Aufregung nicht bemerkt, und die einem erst sehr viel später keine Ruhe mehr lassen. Auch hinterher blieb der Kragen oben, nicht wahr? Du hast die Jacke angelassen wie eine Schmusedecke, bis du ein Bad und einen Sanitätskasten gefunden hattest. Ich erinnere mich. Und als ich nach Ilen greifen wollte, sah ich ihre Fingernägel. Mit dem Blut darunter. Ich habe sie ganz deutlich gesehen. Fass nicht; er hat immer noch keine Ahnung, bis heute nicht. Aber ich habe sie gesehen. Was die Spuren an deinem Hals anging, war ich nicht ganz sicher, aber ich habe mich vergewissert. Erinnerst du dich an unseren Abschiedsfick zwei Wochen später? Das war nur zur Kontrolle. Inzwischen waren die Kratzer natürlich ziemlich verblasst, aber sie waren noch deutlich zu sehen.
Du hast sie immer begehrt, Sal, nicht wahr? Warst immer hinter der schönen Ilen her. Glaubst du, sie wollte Ja sagen, nur weil sie mit dir in das Schiff ging? Vermutlich spielt es keine Rolle. Ich weiß, was ich gesehen habe.
Und noch etwas ist komisch. Ich war am Ziel, du aber nicht. Ilen und ich. Nur einmal, aber auch das ist etwas, was ich nie vergessen werde. Oh, da wärst du sicher gern dabei gewesen, nicht wahr? Später habe ich auch mit Fass gevögelt, nur der Vollständigkeit halber. Er war übrigens viel besser als du.«
Die Gestalt in Uniform ging ganz dicht an die Kamera heran und starrte hinein. Die Stimme wurde tief und leise.
»Ich wollte dich holen, Sal. Wenn du das siehst, habe ich es nicht geschafft, nicht persönlich. Aber verdammt, ich komme und hole dich, noch aus dem Grab heraus.«
Das Bild erstarrte und verschwand. Eine Hand streckte sich aus und schaltete die Kamera ab. Sie zitterte nur leicht.
VIER
Im Krieg
Es gab nicht nur eine, sondern viele Galaxien, das war eine Binsenweisheit. Alle weiter verbreiteten Gattungen von empfindungsfähigen Lebewesen – und einige Kategorien, die vermutlich nicht empfindungsfähig waren, es aber doch bis zur interstellaren Raumfahrt geschafft hatten – und manchmal sogar die einzelnen Speziestypen trachteten danach, eine Galaxis für sich allein zu haben. Die Raumfahrenden – ein Sammelbegriff für alle Wesen, die fähig und willens waren, sich über die unmittelbaren Grenzen ihres Erst-Habitats hinauszuwagen – glichen den Bürgern einer riesigen, voll dreidimensionalen, aber nahezu leeren ›Stadt‹ mit vielen verschiedenen Transportsystemen. Die Mehrheit begnügte sich damit, sich zu Fuß in aller Ruhe auf einem kartographisch niemals erfassten Netz von Pfaden und gepflasterten Wegen, Gassen und Gässchen, Treppen, Leitern und Hausdurchgängen durch unendlich viele verschiedene, im Grunde verlassene Straßen, stille Parks, leere Plätze und Reste von Ödland zu bewegen. Unterwegs kam es so gut wie nie zu Begegnungen mit anderen Wesen, und wenn sie ihr Ziel, die Fotosphäre eines Sterns, die Oberfläche eines braunen Zwergs, die Atmosphäre eines Gasriesen, eine Kometenwolke oder einen Abschnitt des interstellaren Raumes erreichten, war es dem Ort, von dem sie gekommen waren, stets sehr ähnlich. Solche Spezies nannte man im Allgemeinen die ›Langsamen‹.
Anders die ›Schnellen‹. Sie waren zumeist auf Felsplaneten irgendwelcher Art entstanden, führten ihr Leben mit höherer Geschwindigkeit und gaben sich nicht damit zufrieden, in alle Ewigkeit von Ort zu Ort zu trotten. Schlimm genug, dass sie bis zur Errichtung eines funktionsfähigen Wurmloch-Netzwerks dazu gezwungen gewesen waren. Die Zugangsportale zu den Wurmlöchern waren die Flaschenhälse des Wurmloch-Systems – vergleichbar den U-Bahn-Stationen einer Stadt. Hier mussten sich Vertreter verschiedener Spezies-Typen nicht nur begegnen, sondern bis zu einem gewissen Grad auch mischen, wobei die Zeit, die man in der Nähe eines Portals oder innerhalb eines Wurmlochs verbrachte, so kurz war, dass auch dieser enge Kontakt letztlich nicht zu einer Verbindung der verschiedenen Lebensstränge führte. außerdem pflegten sich die Benutzer vor dem Betreten und nach dem Verlassen des Systems in Räumlichkeiten zu versammeln, die auf ihre speziellen Komfortansprüche zugeschnitten waren, und unter Komfort verstand gewöhnlich jede Spezies etwas anderes.
Die Cincturier wurden häufig gleichgesetzt mit Tieren: Vögeln, Hunden, Katzen, Ratten und Bakterien. Auch sie lebten in der ›Stadt‹, hatten aber keinerlei Verantwortung, konnten nicht voll zur Rechenschaft gezogen werden und standen ihrer reibungslosen Funktion oft mehr oder minder im Wege.
Und was die Übrigen anging – die nicht-baryonischen Penumbrae, die 13-D-Dimensionierten und die flussbewohnenden Quantarchen –, so war es, um im Bild zu bleiben, als stellte man irgendwann fest, dass der Boden, die Mauern der Gebäude, ihre Fundamente und sogar die Luft der ›Stadt‹ Lebewesen ganz anderer Art beherbergten.
Auch die Merkatoria – die sich großenteils, aber nicht ausschließlich, aus Sauerstoffatmern zusammensetzte – bewohnte folglich wie die anderen Kategorien von Lebewesen ihre eigene Galaxis. Alle diese verschiedenen Galaxien existierten nebeneinander, durchdrangen sich, waren von anderen umgeben und umgaben sie ihrerseits, beeinflussten sie aber kaum und wurden auch nicht beeinflusst, außer manchmal durch das unersetzliche und dabei allzu verwundbare Wurmlochnetzwerk.
Und wir? Oh, wir wohnten wie Gespenster in den Versorgungsleitungen.
Auf dem Panzerkreuzer krochen Sklavenkinder, beladen mit Schweißbrennern, Rucksäcken mit Carbongewebe und schweren Leimspritzen, über die riesigen Flügel eines Hauptpropellers. Der Lärm der verschiedenen Motoren und des Haupttriebwerks pulsierte durch die wogenden braunen Dunstschwaden und erfüllte die Gaswirbel und den Rumpf des riesigen Schiffes mit seinen Harmonien. Ein gewaltiges Dröhnen, das stetig an-und abschwoll, eine niemals endende Maschinensymphonie.
Fassin und der Colonel standen auf einer offenen Brücke über dem riesigen Triebwerksring und beobachteten, wie sich die beiden Teams von Dweller-kindern über die schlagenden Flügel mit den gebogenen Enden schoben.
Der Steuerbordpropeller war von einem Stück Tauwolken-Wurzel getroffen worden, das von oben aus den Wolken gefallen war. Wahrscheinlich hatte es sich von einer sterbenden Tauwolke gelöst, die zwanzig bis dreißig Kilometer höher schwebte.
Tauwolken waren riesige Schaumpflanzen, die bis zu achthundert Meter breit und fünf-oder sechsmal so hoch werden konnten. Wie alle Gasriesenflora bestanden sie zumeist aus Gas – ein Dweller, der es eilig hatte, konnte wahrscheinlich durch ihren Schirm rasen, ohne überhaupt zu merken, dass er sich nicht in einer gewöhnlichen Wolke befand. Für menschliche Augen sahen sie aus wie eine monströse Kreuzung aus einem lang gestreckten Pilz und einer Qualle von der Größe einer Gewitterwolke. als Teil eines ubiquitären Stammes traten sie überall auf, wo es Dweller gab. Sie nährten sich von Kondenswasser, das sie mit ihren langen, dicken und relativ festen Wurzeln vorzugsweise zwischen Schichten mit unterschiedlichen Temperaturen aus der Atmosphäre der Gasriesen zogen.
Wenn sie gegen Ende ihres Lebens zu den kalten obersten Wolkenbändern und den höheren Dunstschichten hinaufschwebten, brachen oft einzelne Teile ab. Die Propeller des Panzerkreuzers hatten Schutzgehäuse, die verhindern sollten, dass schwebende, herabsinkende oder emporsteigende Pflanzenteile in den Hauptantrieb gerieten, aber das Wurzelstück war zwischen den Schutz und den Propeller selbst geraten und hatte die dreißig Meter langen Rotorflügel beschädigt, bevor es zerschlagen und weggeschleudert wurde. Deshalb krochen nun die Sklavenkinder von den Propellernaben zu den Rändern, um die Schäden auszubessern. Die Kleinen sahen aus wie schmale Dreiecke und mussten sich mit ihren dünnen Ärmchen nicht nur an den Rotorflügeln festklammern, die sich weiterdrehten, sondern auch die Reparaturmaterialien halten. Dadurch wurde ihnen die Arbeit unnötig erschwert. Dweller-Offiziere fuhren mit Motorjollen dicht an die Jungen heran und brüllten Befehle, Drohungen und Beschimpfungen.