Выбрать главу

Die ›Wahrheit‹ ging einen Schritt weiter und vertrat die Ansicht, man könne erreichen, dass dieser Unterschied einen Unterschied mache. Dazu sei erforderlich, dass die Leute in ihrem Herzen, in ihrer Seele und mit ihrem Verstand fest daran glaubten, Teil einer riesigen Simulation zu sein. Sie müssten diese Überzeugung reflektieren, müssten sie unentwegt im Vordergrund ihres Bewusstseins halten, und müssten sich gelegentlich versammeln, um diesem Glauben mit der gebührenden Feierlichkeit und dem nötigen Ernst Ausdruck zu verleihen. Und sie müssten missionieren, um möglichst jeden zu ihrer Ansicht zu bekehren, denn – und darum ging es eigentlich  – wenn erst ein ausreichend großer Anteil der Angehörigen einer Zivilisation erkenne, dass sie in einer Simulation lebten, verlöre die Simulation für diejenigen, die sie erstellt hatten, ihren Wert, und alles bräche zusammen.

Wenn alle nur Teil eines riesigen Experiments wären, und die Versuchsobjekte die Wahrheit errieten, dann hätte das Experiment keinen Sinn mehr. Wären diese Objekte aber nur ein Spielzeug, dann müssten sie dafür, dass sie das begriffen hatten, Anerkennung und – vielleicht – sogar eine Belohnung erhalten. Würden sie in irgendeiner Form auf die Probe gestellt, dann wäre die Erkenntnis ein positives Ergebnis, das ebenfalls eine Belohnung rechtfertigte. Sollten sie aber bestraft worden sein, weil sie in jener größeren Welt ein Verbrechen begangen hatten, dann müsste ihre Einsicht in die wahren Gegebenheiten Anlass sein, sie in Gnaden wieder aufzunehmen.

Wie groß der Anteil der Erleuchteten an der simulierten Bevölkerung sein müsste, um alles zum Stillstand zu bringen (vielleicht fünfzig Prozent, vielleicht viel weniger oder auch viel mehr), wusste niemand, aber solange ihre Zahl noch wachse, nähere sich das Universum der Epiphanie immer weiter an, und der Augenblick der Erkenntnis könne jederzeit kommen.

Die ›Wahrheit‹ bezeichnete sich mit einer gewissen Berechtigung als die ultimative Religion, den endgültigen Glauben, die letzte aller Kirchen. Sie sei das alles übergreifende System, das alle anderen Konfessionen in einen Kontext stellen, erklären und in sich aufnehmen könne. Letztlich ließen sie sich alle als emergente Phänomene der Simulation selbst begreifen und verwerfen. Das gelte in gewissem Sinn auch für die ›Wahrheit‹ selbst, aber sie hätte anders als die anderen auch dann noch etwas zu sagen, wenn dieser gemeinsame Nenner aus der Gleichung entfernt würde.

Auch konnte sie mit mehr Recht als alle anderen den Titel einer Universalreligion beanspruchen. alle großen Religionen beschränkten sich entweder auf die Spezies, in der sie entstanden waren, ließen sich auf eine einzige Spezies – oft sogar nur eine Untergruppe – zurückführen oder waren gezielt entwickelt worden, indem man eine Reihe von halbwegs ähnlichen Religionen unterschiedlicher Herkunft mischte oder eine Synthese aus ihnen bildete.

Da sich die ›Wahrheit‹ nicht auf Wunder (jedenfalls keine belegten Wunder) berief und auch nicht das Werk eines einzelnen, unersetzlichen Propheten war (sie war wie aus dem Nichts in einer Vielzahl verschiedener Zivilisationen entstanden) konnte sie als die erste wahrhaft postwissenschaftliche, panzivilisatorische Religion gelten – zumindest war sie die erste, die nicht einfach von einer Hegemonie den besiegten Untertanen gegen ihren Willen aufgezwungen worden war. Die ›Wahrheit‹ konnte sogar leugnen, überhaupt eine Religion zu sein, um sich bei denen anzubiedern, die nicht von Natur aus religiös waren. Man konnte sie auch als Philosophie betrachten, sogar als wissenschaftliches Postulat, gegründet auf statistische Wahrscheinlichkeiten, die durch nichts zu erschüttern waren.

Die Merkatoria hatte das ganze System einfach übernommen, angemessen codifiziert und zur Staatsreligion der gegenwärtigen Epoche erhoben.

Sie sind nicht gläubig, Fassin? Das Signal des Colonels vermittelte Traurigkeit.

Ich schätze die intellektuelle Kraft der Argumente.

– Aber der Glaube ist nicht allezeit fest in Ihrem Bewusstsein verankert.

– Bedauere. Nein.

– Nehmen Sie es nicht tragisch. Gelegentlich fällt es uns allen schwer. vielleicht können wir uns später einmal ausführlicher darüber unterhalten.

– Das hatte ich befürchtet.

– Kehren wir also zu meiner Frage zurück.

– Ob ich an das ganze Zeug glaube?

– Richtig.

Fassin sah hinab auf das Schiff, die mächtige Konstruktion aus dröhnenden Triebwerken, wirbelnden Rotoren und Verstrebungen. Die Lange Überfahrt: dreißig Millionen Jahre von einer Galaxis zur anderen.

Die Vorstellung, die Dweller hätten irgendetwas gebaut, was eine Reise dieser Länge überdauern könnte, strapaziert meine Glaubensbereitschaft ganz gehörig, gestand er.

Die Behauptung, die Reise nach draußen sei so viel schneller vonstatten gegangen, scheint mir ebenfalls ins Reich der Phantasie zu gehören.

Ach ja, das große intergalaktische Wurmloch – höchstwahrscheinlich ein Mythos.

Ich möchte Ihnen nicht widersprechen, Colonel. Ich würde nur sagen, auch wenn alles andere Unsinn wäre, könnte das Objekt, nach dem wir suchen, trotzdem existieren.

– Dann befindet es sich in unwahrscheinlicher Gesellschaft.

– Auch darin möchte ich Ihnen nicht widersprechen. Es bleibt dabei: Sie sind ein echter Colonel, ich bin nur ehrenhalber Major, und Befehl ist Befehl.

– Der Eifer, mit dem man seine Befehle auszuführen sucht, könnte davon abhängen, wie sehr man daran glaubt, dass es überhaupt möglich ist, sie erfolgreich auszuführen.

– Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Worauf wollen Sie hinaus?

– Ich sondiere nur, Major.

– Sie wollen wissen, wie engagiert ich bin? Ob ich mein Leben einsetzen würde, um … das Objekt unserer Begierde in die Hand zu bekommen?

– So in etwa.

– Mir scheint, wir sind beide Skeptiker, Colonel. Ich wohl noch mehr als Sie. Und wir halten es für wichtig, unsere Pflicht zu tun. Sie vielleicht mehr als ich. Zufrieden?

– Durchaus.

– Ich auch.

– Ich habe heute eine Nachricht von der Ocula erhalten.

– Tatsächlich?

Wolltest du mir das in jedem Fall sagen, oder hätte ich nichts erfahren, wenn ich bei diesem Gespräch meine Skepsis in Bezug auf die Mission noch deutlicher geäußert hätte? Oder hat dein ›Sondieren‹ nur ergeben, dass du mir jetzt nicht alles sagen wirst?

– Ja. Unsere Befehle bleiben bestehen. Zur Zeit des Anschlags auf den Mond Third Fury gab es weitere Angriffe überall im System. Auch derzeit finden noch kleinere Überfälle statt. Die Kommunikationssatelliten um Nasqueron werden so schnell wie möglich repariert. Inzwischen hat die Navarchie über dem Planeten eine Flotte stationiert, die als Ersatz für die Satelliten fungieren und Sie und mich beschützen und unterstützen soll. Und sie soll uns nach Abschluss der Mission oder in einem Notfall hier abholen.