Der Punkt am Himmel wurde größer.
»Sie brauchen ihr doch nur zu befehlen, sich selbst zu sprengen?« , sagte der Colonel und rotterte zurück. Aus dem Innern ihres Schutzanzugs drang ein schrilles Winseln. Der schreiende, fluchende Dweller-Haufen am Ausgang kam nicht voran. Die Sturmschere setzte zu einer Wendung an, aber sie war hoffnungslos langsam.
»Theoretisch kann man die Rakete zerstören«, sagte Fassin und beobachtete besorgt die immer noch unbewegte Masse vor dem Ausgang. »Es gibt auch Abfanggeschütze für den Nahbereich.« Wieder wurde ein verzweifeltes Sklavenkind aus dem Haufen nach oben geschleudert, prallte schreiend gegen die Decke und fiel leblos auf das Deck, das sich langsam zur Seite neigte.
Die Rakete war jetzt kein großer Punkt mehr, sondern hatte eine eigene Form bekommen. Stumpfe Flügel und ein Leitwerk wurden erkennbar. Die Sturmschere drehte sich quälend langsam weiter. Die Rakete raste ihr auf einer pechschwarzen Abgasspur entgegen. Hatherence schwebte aus ihrer Sitzgrube und näherte sich der diamantverkleideten Nase der Beobachtungskanzel, anstatt sich davon zu entfernen.
– Bleiben Sie zurück, Major, sendete sie. Über und hinter ihnen war ein schreckliches Reißen und Knirschen zu hören, ein Netz von fingerdünnen Fäden durchzog das Gas vor der Schiffsnase, und die Rakete löste sich auf, um erst dann zu explodieren. Irgendwo hinter ihnen feuerte das Abfanggeschütz weiter und zerschlug viele von den größeren glühenden und qualmenden Trümmern, die weiter auf die Sturmschere zustürzten. Als die so entstandenen Splitter die Beobachtungskanzel trafen und durchschlugen, war der Schaden gering, und es gab nur harmlose Verletzungen.
Der Panzerkreuzer brachte sie bis nach Munueyn, eine Ruinenstadt, die in die dunklen, dichten Gase der unteren Atmosphäre abgesunken war. Träge Turbulenzwirbel leckten an ihnen, schwer und lüstern wie eine monumentale Planetenzunge. Die Stadt war ein Meer von Türmen und Achsen, fast verlassen, längst aus der Mode gekommen, ein ehemaliges Sturm-Zentrum, das jetzt so weit abseits lag, dass sich kaum noch jemand dafür interessierte. Munueyn hätte sich Kudos erwerben können, hätte es sich in der Nähe einer Kriegszone befunden, doch innerhalb einer solchen brauchte sie sich darauf keine Hoffnungen zu machen. Eine Fregatte übernahm die Reisenden vom Panzerkreuzer und setzte sie im einstmals viel frequentierten RaumHafen der Stadt ab, einer gigantischen Halle, in der jeder Laut ein Echo erzeugte. Von den ansässigen Vermietern und Fliegern wurden sie wie heimkehrende Helden oder wie Götter empfangen. Sie fanden ein Gästehaus für negatives Kudos, wo sie tatsächlich dafür bezahlt wurden, dass sie dort abstiegen.
»Meister!«, sagte Scholisch und erhob sich über die Schar von Bittstellern, die unten in dem kleinen Hof warteten. »Ein Hotelier von makellosem Ruf und mit ausgezeichneten familiären Verbindungen im Bereich Reisegenehmigungen in Kriegszeiten bittet dich inständig, dir ein Angebot vorlegen zu dürfen. Er will dir eine richtige Flotte bestehend aus einem Halbdutzend gut ausgestatteter Schiffe zur Verfügung stellen, alle in bestem Zustand, technisch einwandfrei und in weniger als einer Stunde nach Ankunft startbereit.
»Und wann soll das sein, du Flüchlein meines bereits allzu langen Lebens?«
»In einem Tag. Höchstens zwei. versichert er.«
»Kommt nicht in Frage! Ganz und gar ausgeschlossen!«Y’sul erschauerte schon bei der Vorstellung. Er räkelte sich in einer Grube auf der blumengeschmückten Terrasse vor der Taverna Bucolica, so dicht über dem Hauptplatz der Stadt, dass man die Verzweiflung des Bürgermeisters riechen konnte. Man reichte ihm einen Pharmazylinder, er nahm einen tiefen Zug, stieß den Rauch aus und hauchte: »Der Nächste!«
Fassin und der Colonel schwebten nicht weit von ihm. Sie wechselten einen Blick, dann glitt Hatherence näher an Fassin heran.
– Warum machen wir beide uns nicht einfach allein auf den Weg?
– Ganz allein?
– Wir sind beide autark und könnten ein gutes Tempo vorlegen.
– Glauben Sie?
Der Colonel unterzog sein Pfeilschiff einer demonstrativen Musterung. – Ich denke schon.
Du hast doch sicher alle technischen Angaben für das Ding abgerufen, bevor wir Third Fury verlassen haben, und weißt verdammt gut Bescheid, dachte er …
… und sendete: – Wir sollen also zu zweit allein durch die Wolken fegen?
– Richtig.
– Dabei gibt es ein Problem.
– Tatsächlich?
– Tatsächlich sind es sogar zwei. Erstens findet gerade ein Krieg statt, und wir sehen wie zwei Sprengköpfe aus.
– Sprengköpfe? Aber wir erreichen doch nicht einmal Schallgeschwindigkeit!
– Im Formalkrieg ist die Geschwindigkeit für Sprengköpfe streng begrenzt. Wir werden wie Sprengköpfe aussehen.
– Hmm. Und wenn wir etwas langsamer flögen?
– Wie langsame Sprengköpfe.
– Noch langsamer?
– Wie Flugminen. Und bevor Sie weiter fragen, wenn wir noch langsamer fliegen, sehen wir aus wie gewöhnliche monomolekulare Schwebeminen.
Hatherence hüpfte einmal auf und ab. Ein Seufzer. – Sie erwähnten ein zweites Problem.
– Ohne Y’sul wird wahrscheinlich niemand mit uns sprechen wollen.
– Und mit ihm hat niemand eine Chance, zu Wort zu kommen.
– Trotzdem.
Sie brauchten ein eigenes Transportmittel. Wichtiger noch, sie brauchten ein Transportmittel, das ungehindert in die Kriegszone einfliegen durfte. Die Reste von Valseirs alter Behausung lagen zu weit vom WolkenTunnel-Netzwerk entfernt, um sie rotternd oder schwebend erreichen zu können. Y’sul hatte versprochen, eine Lösung zu finden – mit seinen Beziehungen zur Großstadt und zur Äquatorzone und als Begleiter von exotischen Aliens würde er jeden, der ihm helfen konnte, mit positivem Kudos förmlich durchtränken – doch dann hatten sich so viele Helfer gemeldet, dass er in der Masse stecken geblieben war und sich offenbar nicht mehr entscheiden konnte. Jedes Mal, wenn er im Begriff schien, eines der unerhört großzügigen Angebote anzunehmen, erschien schon das nächste, noch verlockendere am Horizont und zwang ihn von neuem zum Überlegen.
Nach zwei Tagen hatte Hatherence endgültig genug und charterte, zu etwas besseren Konditionen, als Y’sul sie soeben abgelehnt hatte, selbst ein Schiff.
Dagegen protestierte Y’sul in der Suite in der Taverna. »Ich führe die Verhandlungen!«, brüllte er.
»Richtig«, stimmte der Colonel zu. »Und zwar viel zu viele.«
Man einigte sich auf einen Kompromiss. Der Colonel gestand dem Vermieter, dass sie nicht berechtigt sei, einen gültigen Vertrag zu schließen, und bevor der entsetzte Schiffseigner zum Protest ansetzen konnte, übernahm Y’sul das Abkommen zu den gleichen Bedingungen. Es war der Tag des offiziellen Kriegsbeginns, ein Anlass, der in Pihirumime auf der anderen Seite der Welt mit einer Eröffnungsgala und einem Formalduell feierlich begangen wurde. am nächsten Tag brachen sie auf – mit dem nächsten Abwärtsstrudel, der auch horizontal in die richtige Richtung wirbelte. Sie flogen mit der Poaflias, einem hundert Meter langen Schraubenbrecher mit zwei Rümpfen, Alter unbekannt, aber wahrscheinlich sehr hoch. Außer dem Captain waren fünf Mann Besatzung an Bord. Das rundliche Schiff war ziemlich langsam, aber – die Gründe waren in den Nebeln der militärischen Logik der Dweller verborgen – immer noch als neutraler Piratenaufklärer registriert und daher berechtigt, in die Kriegszone zu fliegen. Dort würde es hoffentlich alle weiteren Prüfungen bestehen, solange nicht jemand das Feuer eröffnete, anstatt zu verhandeln.