Ein roter Blitz spülte das Gas ringsum einfach weg.
Jetzt bin ich tot, konnte Fassin gerade noch denken.
Ein schmaler, rosa-weißer Feuerfächer schoss aus Colonel Hatherences Schutzanzug und erfasste die Harpune in voller Länge. sie verschwand in einer Wolke aus Hitze und Licht. Um die Detonation herum breitete sich deutlich sichtbar eine kugelförmige Schockwelle aus und erfasste die Mine …
… Die stutzte kurz, schien zu überlegen, dann setzte sie ihren Weg unbeirrt fort. Die Schockwelle erschütterte das Schiff und alle, die sich darauf befanden. Auch Fassin spürte sie. Er wurde langsamer und drehte sich um. Die Poaflias hatte nach Slynes letztem Befehl ihre Geschwindigkeit verringert. Der Gasstrom war schwächer geworden, aber immer noch stark genug, um Scholischs ramponierten Panzer in den schwarzen Seilschlingen immer wieder auf das Deck zu schleudern.
Y’sul hatte sich umgedreht und fragte kleinlaut: »Scholisch?«
»Was die Raumfahrenden Spezies mehr als alles voneinander unterscheidet, ist das Zeitempfinden. wir als Dweller verfügen natürlich über ein sehr breites Chronosensorium, das fast das ganze Spektrum abdeckt. Die Maschinen-›Schnellen‹ schließe ich dabei aus.« Kurzes Zögern. »Ihr verabscheut sie doch immer noch?«
»Aber gewiss doch!«, rief der Colonel.
»Sie werden gnadenlos verfolgt«, sagte Fassin.
»Hmm. Bei ihnen sieht es selbstverständlich anders aus. Doch auch wenn man nur die Spezies betrachtet, die sich natürlich entwickelt haben, stellen all die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in denen die Zeit wahrgenommen wird, nach Meinung vieler die einzige wahrhaft aussagekräftige Unterscheidung zwischen Spezies und Speziestypen dar.«
Der Sprecher war ein alter Weiser namens Jundriance. Bei den Dwellern gab es bis zu neunundzwanzig verschiedene Alterskategorien, die mit dem kind anfingen und – nicht weniger (und meist viel mehr) als zwei Milliarden Jahre später mit dem KIND endeten. Dazwischen lagen die kurzen Adoleszenz-und Jugendperioden, die einiges längere, in drei Phasen unterteilte Erwachsenenperiode, die Reifeperiode mit ihren vier Phasen, die Schwellen periode mit dreien und schließlich, falls der Dweller dieses Alter (im Minimum ein ein Viertel Millionen Jahre) erreichte und von seinesgleichen für würdig erachtet wurde, die Weisenperiode, in der sich sämtliche Phasen der Erwachsenen-, reife-und Schwellenperioden noch einmal wiederholten. Theoretisch war Jundriance ein Chice in der Reifephase der Weisenperiode. Er war dreiundvierzig Millionen Jahre alt und auf einen Durchmesser von sechs Metern geschrumpft. Sein Panzer war nachgedunkelt und hatte die trübe Patina des mittleren Alters angenommen, und er hatte die meisten seiner Gliedmaßen verloren. Dieser Dweller hütete, was vom Haus und den angeschlossenen Bibliotheken des für tot erklärten Schwellen-Choal Valseir noch übrig war.
Zu normalen Zeiten war die Aussicht vor den Fenstern immer die gleiche: ein dunstiges Band aus tiefbraunen und violetten Gasschleiern in einem großen senkrechten Zylinder unbewegter Dunkelheit, dem letzten Echo des großen Sturms, um den sich das Haus einst gedreht hatte wie ein winziger Planet um eine kalte Riesensonne. von außen gesehen bestand der Komplex aus Wohntrakt und Bibliothek aus zweiunddrei ßig Sphären, jede etwa siebzig Meter im Durchmesser, viele am Äquator von Balkonen umgeben, ein Blasenhaus, das aussah wie eine Schar von unwahrscheinlich dicht aufeinander getürmten Ringplaneten. Es schwebte nur wenige Kilometer über der Region, wo sich die Atmosphäre mehr wie eine Flüssigkeit verhielt als wie ein Gas, in einer ausgedehnten, dicken Gasschicht, und sank ganz langsam hinab in die dunklen, heißen Tiefen.
»Das ist also sein Haus?«, hatte der Colonel gefragt, als das Gebäude zum ersten Mal vor dem Vorderdeck der Poaflias aufgetaucht war.
Fassin hatte sich umgesehen und mit seiner Schall-und Magnetsensorik nach dem Abschnitt des verfallenen WolkenTunnels gesucht, an dem das Haus früher verankert gewesen war, aber der war offenbar nicht mehr in der Nähe. Die Lagepläne der Poaflias hatte er bereits konsultiert. Das Stück WolkenTunnel war auf den Holokarten der Umgebung nicht verzeichnet, was bedeutete, dass es sehr weit abgetrieben oder – wahrscheinlicher – in die Tiefe gestürzt war.
»Ja«, sagte er. »Sieht ganz danach aus.«
Die Poaflias hatte wenden und nach Munueyn zurückfliegen müssen, um den schwer verletzten Scholisch in ein Krankenhaus zu bringen. Die Ärzte hatten ihm eine fünfzigprozentige Überlebenschance gegeben. Am besten würde die Heilung vonstatten gehen, wenn man ihn für einige hundert Jahre in ein Drogenkoma versetzte. Mehr könnten sie nicht tun.
Y’sul bekam zahllose Angebote von Dwellern in der Jugend-oder Adoleszenzperiode, die nur zu gern die Stelle seines verkrüppelten Dieners eingenommen hätten, aber er lehnte sie alle ab – eine Entscheidung, die er nur einen Tag später wieder bereute, als sie sich abermals auf den Weg machten und er feststellte, dass er nun niemanden mehr hatte, den er anbrüllen konnte.
Sie hatten die Strecke unter Umgehung aller Gefahren, anderer Schiffe und Minen jeder Art in zehn Tagen zurückgelegt. Der Weise Jundriance wurde von Nuern und Livilido betreut, zwei stämmigen Dienern in der Reifeperiode, die in aufwändig verzierten, aber schlecht sitzenden Gelehrtenroben steckten. Sie waren alt genug, um eigene Diener zu haben: ein halbes Dutzend außerordentlich schweigsame Erwachsene, die wie eineiige Sechslinge aussahen, eifrig umhereilten, aber in ihrer Schüchternheit an Autisten erinnerten.
Nuern, der ältere der beiden Diener – ein Mouean, Livilido, ein Suhrl, stand eine Stufe unter ihm – hatte sie empfangen, ihnen ihre Zimmer zugewiesen und ihnen erklärt, sein Herr sei damit beschäftigt, die verbliebenen Werke in den Bibliotheken zu katalogisieren. wie Y’sul bereits vermutet hatte, war ein großer Teil des Inhalts nach Valseirs Unfall wahllos verteilt worden. Wahrscheinlich war es nur der Abgeschiedenheit des Hauses zu verdanken, dass nicht noch mehr Gelehrte aufgetaucht waren, um die Überreste zu durchsuchen. Jundriance befinde sich jedoch in ›Langsam‹-Zeit, wenn sie also mit ihm sprechen wollten, müssten sie sich seinem Denktempo anpassen. Fassin und der Colonel hatten sich dazu bereit erklärt. y’sul hatte verkündet, für ihn komme das nicht in Frage. Er wollte mit der Poaflias eine Spritztour in die nähere Umgebung unternehmen und vielleicht ein wenig auf die Jagd gehen.
»Eigentlich wären Sie verpflichtet, auf uns zu warten«, hatte ihm der Colonel erklärt.
»Verpflichtet?«, hatte Y’sul gefragt, als höre er das Wort zum ersten Mal.
Jundriance wurde durch eine Nachricht auf seinem Bildschirm in Kenntnis gesetzt, dass er Besuch hatte. währenddessen hatten die beiden mindestens einen Tag zur freien Verfügung. Falls er sie sofort empfangen wollte, konnten sie die Bibliothek noch vor dem Dunkelwerden betreten. wenn nicht, konnte es lange dauern …
»Colonel«, hatte Fassin vermittelt, »wir werden für eine Weile auf ›Langsam‹ schalten müssen. warum soll sich Y’sul nicht inzwischen in der Nähe …« – bei den letzten Worten hatte er sich umgedreht und Y’sul eindringlich angesehen – »amüsieren, anstatt in diesem Haus herumzuhängen.«
– Er wird sich nur in Schwierigkeiten bringen.
– Anzunehmen. Aber was ist besser, Schwierigkeiten im Haus, oder Schwierigkeiten außerhalb?
Hatherence hatte leise vor sich hingegrollt, dann hatte sie Y’sul streng erklärt: »Wir sind hier im Kriegsgebiet.«
»Ich habe die Netze abgehört!«, hatte Y’sul protestiert. »Der Krieg ist tausende von Kilometern entfernt.«
»Tatsächlich?« Nuern hatte aufgehorcht. »Hat er schon angefangen? Der Meister gestattet keine Nachrichtenverbindungen innerhalb des Hauses. wir erfahren gar nichts.«
»Schon vor zwölf Tagen«, hatte Y’sul geantwortet.»Wir waren bereits mittendrin. Auf dem Weg hierher hätte uns beinahe eine intelligente Mine erwischt. Mein Diener wurde schwer verletzt, womöglich stirbt er.«