»Ach so. Ich verstehe. Nun, wenn du diskret sein kannst. Suchst du nach etwas Bestimmtem, Seher Taak?«
»Gewiss. Und Sie?«
»Ich will nur mein Wissen mehren. Darf ich fragen, was dein Anliegen ist?«
»Genau das gleiche.«
Der alte Dweller schwieg eine Weile. In Echtzeit verging fast eine volle Stunde. »Vielleicht habe ich etwas für dich«, sagte er endlich. »Könntest du noch etwas ›langsamer‹ werden? Dieses unser derzeitiges Tempo mag dir bereits überwältigend langsam erscheinen; für mich ist es dagegen ziemlich anstrengend.«
»Natürlich«, nickte Fassin.
– Weiter kann ich Sie nicht begleiten, Major.
– Sie Glückspilz. Ich werde mich bemühen, es kurz zu machen.
– Viel Glück, sendete Hatherence.
»Ich kann nicht weiter mitkommen«, teilte der Colonel auch dem Weisen mit.
»Es war mir ein Vergnügen, dich kennen zu lernen, ehrenwerter Colonel«, erklärte Jundriance. »Und nun«, wandte er sich an Fassin, »mal sehen. Ich denke, die Hälfte dieses Tempos wäre mir angenehmer, Seher Taak. Noch besser wäre ein Viertel.«
»Vielleicht können wir es zunächst mit der Hälfte versuchen?«
In nur drei Tagen war er zurück. Hatherence war dabei, den Inhalt einer anderen Bibliothek zu inspizieren, als er sie fand. Der Raum war fast vollkommen kugelförmig und hatte keine Fenster, nur durch einen Kreis im Zentrum der Decke drang ein matter Lichtschein, und in jedem Regalbrett sorgten zwei eingelegte Biostreifen, die gespenstisch grün leuchteten, für eine gewisse Helligkeit. Säulenregale, geformt wie riesige, nach innen zeigende Flügelräder, verliehen dem Raum ein seltsam organisches Flair, sie wirkten wie Rippen im Innern eines riesigen Lebewesens. Der Colonel schwebte neben einem der schmalen Regale fast im Zentrum. Auch ihren Schutzanzug zierten grüne Leuchtstreifen.
»So früh schon, Major?«, fragte sie und legte einen schmalen Holokristall zu vielen anderen auf ein Bord zurück. Zugleich sendete sie: – Unser Freund hatte nichts von Interesse zu bieten?
»Der Weise Jundriance gab mir so viel Stoff zum Nachdenken, dass ich mich entschloss, auf normale Geschwindigkeit zurückzugehen, um es zu verarbeiten«, antwortete Fassin und signalflüsterte: – Der alte Bastard hat mir einen Dreck gegeben. Im Grunde versucht er uns nur hinzuhalten.
»Während Sie Konversation machten, habe ich Forschungen betrieben.«
»Etwas Wichtiges gefunden?«, fragte er und schwebte zu ihr.
– Manches weist darauf hin, dass vor nicht allzu langer Zeit viele andere Dweller hier wohnten. vielleicht bis vor ein paar Tagen. »Das Haussystem ist offenbar der Meinung, es müsste irgendwo einen Katalog der Kataloge gegeben. Es sollten sogar zahlreiche Exemplare davon herumliegen.«
»Ein Katalog der Kataloge?«, fragte Fassin. – Andere Dweller?
»Der erste Katalog, den Valseir zusammenstellte, und in dem die Einzelwerkskataloge aufgelistet sind, die er danach aufstellen wollte.« – Es könnten bis zu zehn oder zwölf gewesen sein. Außerdem habe ich den Eindruck, dass Livilido und Nuern mehr oder zumindest anders sind, als sie scheinen.
»Ein Katalog für alles wäre wohl zu einfach gewesen?«, fragte Fassin und sendete: – Mir kamen sie auch nicht wie gewöhnliche Diener vor. wo sind denn nun diese zahlreichen Exemplare?
– Ich habe den Verdacht, jemand hat sie entfernt. Sie wären der Schlüssel zu einer systematischen Suche gewesen, antwortete der Colonel. Laut sagte sie: »Er hielt dieses Vorgehen wohl für logisch. Jedenfalls mangelt es nicht an Material, nicht einmal jetzt, nachdem so viel entfernt wurde. Ein einziger Katalog wäre wohl zu umfangreich geworden.« Der Colonel hielt inne. »Eine einzige große Datenbank mit großzügig dimensionierten Unterdateien, teilweise überlappenden Kategorien und Unterkategorien, einer hierarchisch skalierbaren Querverweisstruktur und eingebauten, halbintelligenten Lernprogrammen für die Anwender wäre natürlich noch sinnvoller und sehr viel nützlicher.«
Fassin sah sie an. »Wahrscheinlich wäre er dazu noch gekommen, nachdem er abgeschlossen hatte, was er unter einer ordentlichen Katalogisierung verstand – alles in einer endgültigen Form niederzulegen, die ohne dazwischengeschaltete Maschinen lesbar ist.«
»Unsere Dweller-Freunde scheinen in solchen Dingen auffallend puristisch zu denken.«
»Wenn man so lange lebt wie sie, wird Zukunftsfestigkeit zur Besessenheit.«
»Vielleicht ist das ihr Fluch. Die ›Schnellen‹ müssen die Frustration ertragen, in einem Universum mit einer aufreizend niedrigen Geschwindigkeitsbegrenzung zu leben, und die ›Langsamen‹ leiden unter dem hektischen Tempo der Veränderungen, die in einer Art von überzogener Entropie münden.«
Fassin war langsam näher an Hatherence herangeschwebt. Nun kam er zwei Meter vor ihr zum Stehen und kippte ab, um deutlich zu machen, dass er sie ansah. Die leuchtenden Biostreifen auf den Regalborden zeichneten weiche limonenfarbene Linien auf das Gasschiffchen. »Wie fühlen Sie sich da drin, colonel?«, fragte er. »Ich weiß, es ist hier sehr heiß und drückend.« – Colonel, glauben Sie, wir verschwenden unsere Zeit?
»Mir geht es gut. Und Ihnen?« – Schwer zu sagen. Es gibt hier noch so vieles, was man sich ansehen sollte.
»Ebenfalls. Fühle mich sehr ausgeruht.« – Genau das meine ich. Möglicherweise will man uns verleiten, hier mit der Suche nach etwas, das bereits entfernt wurde, unsere Zeit zu vergeuden.
»Meines Wissens eine Nachwirkung der verlangsamten Zeit.« – Das ist nicht von der Hand zu weisen. Ich hatte, Sie verstehen, anhand der Spuren im Staub und so weiter den Eindruck gewonnen, viele der Regale seien erst vor kurzem gefüllt oder neu gefüllt worden. Und viele der Werke haben nichts mit Valseirs Forschungen zu tun, soweit ich das verstehe. Kam mir sehr merkwürdig vor. Wenn das alles natürlich eine Art Langsamkeitsfalle für Sie und mich sein soll, ergibt es allmählich einen Sinn. Aber was können wir sonst tun? Wo können wir noch hingehen?
»Ich muss noch einmal mit dem Weisen sprechen«, sagte Fassin. »Ich habe so viele Fragen an ihn.« – Tatsächlich werde ich alles tun, um nicht noch einmal mit dem alten Langweiler reden zu müssen. Wir müssen Kontakt zu allen anerkannten Forschern aufnehmen, die Werke von hier mitgenommen haben, und nachfragen, ob einer von ihnen die Kataloge oder sonst etwas hat, was für uns von Bedeutung sein könnte. Es gibt hier zwei Dutzend Einzelbibliotheken; selbst wenn sie nur zur Hälfte gefüllt sind, könnten wir jahrzeh ntelang suchen.
»Er ist eine überaus interessante und kluge Persönlichkeit.« – Mehrere zehn Millionen Werke, und wenn die meisten ungeordnet sind, gibt es keine Ordnung. Ich werde ein Signal an die Poaflias schicken, sie soll eine Nachricht an die einschlägigen Forscher absetzen. Wer könnte ein Interesse daran haben, uns solche Steine in den Weg zu legen?
»Das muss man wirklich sagen.« – Ich habe keine Ahnung.
»Ich werde mich wohl noch eine Weile mit den Regalen beschäftigen. Machen Sie mit?« – Was meinen Sie?
»Warum nicht?«
Sie schwebten zu zwei verschiedenen, aber nicht weit voneinander entfernten Säulen, jeder schnappte sich ein Holokristallbuch von dem rutschfesten Bord und vertiefte sich darin.
»Sein Arbeitszimmer?«, fragte Nuern. Sein Flossensaum zuckte, ein Zeichen, das er Livilido einen Blick zuwarf. Sie waren bei Tisch. Die beiden Diener hatten Fassin und Hatherence zu einem halb offiziellen Essen im Speisezimmer des Hauses eingeladen, einem düsteren Raum von der Form eines Rieseneis, in dem jeder Laut widerhallte. Vom Boden bis zur Decke spannten sich mächtige Carbonfasertrossen. Jede Trosse war zu immer dünneren Stricken, Fasern, Fäden und Filamenten aufgedröselt, die wieder penibel zu vielen dünnen Seilen verknotet waren, so dass man sich vorkam wie in einem riesigen fransigen Netz.