Jundriance war immer noch stark zeitverlangsamt und nahm an dem Essen nicht teil. Man hatte spezielle Speisen zubereitet, die auch für den Colonel geeignet waren. Sie saugte sie über eine Art Gasschleuse an der Seite ihres Schutzanzugs ein. Fassin war nur als Zuschauer gekommen, sein Pfeilschiff versorgte ihn mit allem, was er brauchte.
»Ja«, sagte er. »Wo könnte es wohl sein?«
»Ich dachte, Bibliothek Eins sei sein Arbeitszimmer gewesen«, sagte Nuern, nahm sich eine zweite Portion einer leuchtenden mattblauen Masse vom Karussell in der Mitte und drehte die Platte langsam zu seinen beiden Tischgenossen weiter.
»Das dachte ich auch«, sagte Livilido und sah Fassin an. »Gab es tatsächlich noch ein anderes? Vielleicht ist ein Stück des Gebäudes abgefallen?«
Fassin hatte sich in allen Bibliothekssphären umgesehen. Bibliothek Eins war zwar Valseirs offizielles Arbeitszimmer gewesen, wo er andere Gelehrte und sonstige Besucher empfangen hatte, aber nicht sein wirkliches Arbeitszimmer, seine Bude, sein privater Rückzugsraum, zu dem nur sehr wenige Auserwählte Zutritt gehabt hatten. Fassin hatte es als große Ehre empfunden, als ihn Valseir in das Nest im Innern der verlassenen WolkenTunnel-Röhre einlud, an der bei seinem letztem Besuch vor mehreren Jahrhunderten der Rest des Hauses verankert gewesen war. Bibliothek Eins sah noch genauso aus wie damals, nur fehlten ein paar tausend Bücherkristalle und ein großer, zylinderförmiger Kühlschrank, in dem Valseir Bücher aus Papier und Plastik aufbewahrt hatte. Jedenfalls hatte es nicht den Anschein, als wäre der Raum in der Zwischenzeit zu Valseirs wirklichem Arbeitszimmer geworden. Und jetzt wollten die Diener angeblich nicht einmal wissen, dass es so ein privates Reich überhaupt gegeben hatte.
»Ich dachte, er hätte noch ein anderes Arbeitszimmer«, sagte Fassin. »Hatte er nicht ein Haus in … was für eine Stadt war es doch noch? Guldrenk?«
»Ach ja! Natürlich«, sagte Nuern. »Das muss es sein.«
– Colonel, diese Burschen haben keine Ahnung.
– Den Eindruck gewinne ich allmählich auch.
Bibliothek einundzwanzig (Cincturier/Wölker/Vermischtes) hatte eine Besonderheit, eine Dweller-Geheimtür in Form eines Bücherschranks. Valseir hatte sie Fassin gezeigt, als sich der Mensch nach ihrer ersten Begegnung für längere Zeit bei ihm aufgehalten hatte. Die Tür führte zuerst nach innen zum Zentrum der Traube aus Bibliothekssphären und von dort durch einen kurzen Gang zu einer Lücke zwischen zwei äußeren Sphären und hinaus ins offene Gas. Der Witz – eine verborgene Tür, ein geheimer Gang – bestand darin, dass die verschiedenen Cincturier die Außenseiter der galaktischen Gemeinschaft waren, und dass der Bücherschrank, durch den man in den Geheimgang gelangte, die Aufschrift ›Ausreißer‹ trug.
Nach dem Essen gab Fassin vor, sich in der Bibliothek einschließen zu wollen, um bis tief in die Nacht hinein Regale zu durchforsten. Tatsächlich holte er sich die Protokolle des Haussystems auf den Bildschirm und ging zurück in die Zeit kurz nach Valseirs Segelunfall und seinem angeblichen Tod. Dann tat er etwas, das nicht nur ungewöhnlich, sondern nach den Standards der Merkatoria kaum noch legal und auf Nasqueron im Allgemeinen sinnlos war: Er beschleunigte und jagte die bis zum legalen Maximum hochgerüsteten Computer des Gasschiffs und sein eigenes leicht modifiziertes Nervensystem bis an die Grenzen ihrer Datenverarbeitungskapazität hoch. Dennoch brauchte er fast eine halbe Stunde, bis er gefunden hatte, wonach er suchte: den Punkt nämlich, an dem das Haus ein Dutzend Tage nach Valseirs Unfall eine Umleitung der Energieversorgung und der Ventilation protokolliert hatte. auch der Höhenmesser hatte ein Flattern registriert – einen kurzen Ausschlag nach oben, und dann hatte das lange, gemächliche Absinken begonnen, das immer noch anhielt.
Als Nächstes musste Fassin feststellen, wo sich das WolkenTunnel-Segment jetzt befand. Sicher hatte es die Zone der Scherströmung und die Zone, wo sich das ganze Atmosphäreband noch wie eine einzige riesige Masse bewegte, bereits überschritten und die halb flüssigen Tiefen erreicht, die sich viel langsamer drehten als das Gas darüber. Die Übergangszonen waren gewaltige zähe und trübe Meere, die sich nur widerwillig vom wirbelnden Jetstream der Atmosphäre mitreißen ließen.
Hier war Koppelnavigation gefragt. Nach dem Weltbild der Dweller war die Atmosphäre statisch, und die Tiefen – ganz zu schweigen vom restlichen Ulubis-System, den Sternen und eigentlich dem ganzen Universum – bewegten sich. Da alle Bezugspunkte nur theoretisch fixiert waren, ließ sich, was einmal in den Tiefen versunken war, notorisch schwer wiederfinden. Nach zweihundert Jahren konnte der WolkenTunnel-Abschnitt überall sein, vielleicht war er außer Reichweite, vielleicht war er zerbrochen, vielleicht war er auch an den Zonenrand abgetrieben und nach Norden oder Süden in einen ganz anderen Gürtel gezogen worden. Fassins einzige Hoffnung war die Tatsache, dass das Rohrstück, nach dem er suchte, relativ groß war. Selbst in Nasqueron konnte ein Objekt von mehr als vierzig Metern im Durchmesser und achtzig Kilometern Länge nicht einfach spurlos verschwinden. Und er ging trotz allem davon aus, dass die Bewegung des WolkenTunnels durch die bekannte Funktion von Auftriebs-und Gravitationskräften bestimmt wurde.
Das Ergebnis war bestürzend ungenau. Der errechnete Standort befand sich etwa fünftausend Kilometer entfernt, kam aber, nachdem er den Planeten unzählige Male umrundet hatte, ständig näher. In zwölf Stunden würde er sich genau unter dem Haus befinden. Fassin stellte eine neue Rechnung auf. Es wäre machbar. Er verfasste eine Nachricht, in der er sich jede Störung verbat, und schickte sie an den Schirm an der Bibliothekstür.
Fassin passierte die Geheimtür etwa eine Stunde, nachdem er die Bibliothek betreten hatte. Er ließ das Gasschiffchen wachsen, indem er die Trimmzellen erweiterte, so dass im Innern Vakuumräume entstanden und die Außenform größer und nahezu kugelförmig wurde. Dadurch fiel er zunächst sehr langsam und erzeugte unter dem Haus nur geringe Turbulenzen. Dann verkleinerte er das Pfeilschiff, bis es nur noch so schmal wie ein Wurfpfeil und entsprechend schwerer war, tauchte antriebslos in die schwarzen Tiefen ein und durchstieß die Grenze des nahezu statischen Zylinders aus verdünntem Gas, des einzigen Überbleibsels jenes uralten Sturms.
Zwanzig Kilometer tiefer fuhr er die Triebwerke hoch, brachte das Schiff auf ebenen Kiel und entfernte sich dreißig Kilometer zur Seite. Dann stieg er rasch nach oben und schoss durch das allmählich abkühlende und dünner werdende Gas, bis er die Dunstschichten durchdrungen und die oberste Wolkenschicht erreicht hatte. Dort tarnte er das Pfeilschiff, soweit das möglich war, und ging auf Höchstgeschwindigkeit. Das Gasschiff war ursprünglich für solche Kapriolen nicht geschaffen, aber im Lauf der Jahre von ihm selbst und Hervil Apsile immer wieder umgebaut worden. Nun war es zwar noch immer nicht mit einer echten Militärmaschine zu vergleichen, glitt aber unauffälliger als fast jedes andere Schiff innerhalb der Gasriesen-Atmosphäre über die Oberfläche des Planeten (die üblichen grotesken Dweller-Geschichten von unsichtbaren Raumschiffen, trägheitslosen Antrieben und Nullpunkt-Subraum-Fliegern natürlich nicht mitgerechnet).
Das Schiffchen zog unter dem fahlgelben Himmel dahin. Über Fassin wurden die Sterne langsamer, und als er die Summe der Rotationsgeschwindigkeit des Planeten und der Geschwindigkeit des Atmosphärebandes überschritt, das unter ihm in die gleiche Richtung raste, schienen sie gar in den Rückwärtsgang zu schalten. Als nach knapp einer Stunde Flug weder über noch unter ihm irgendetwas zu sehen war, was Anlass hätte geben können, in diesem Universum Leben zu vermuten, wurde er langsamer und ließ sich fallen – eine Pfeilspitze ohne Schaft, die geradewegs auf das Herz des Planeten zielte. Er nützte die steigende Dichte des Gases zum Bremsen und spürte, wie die Reibungshitze durch den Rumpf des Gasschiffs und in sein Fleisch kroch.