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Durch die obere Grenzzone – sie war mehrere Kilometer dick, aber nicht scharf umrissen und schlug oft große träge Wellen oder bildete willkürlich Berge und Täler – drang er in die eigentliche Scherströmung ein und kreiste durch die erdrückend zähe, geleedicke Atmosphäre. wenn der WolkenTunnel-Abschnitt noch existierte, müsste er hier in den Tiefen sein und im allmählich wachsenden Druck des Wasserstoffs auf dem Weg vom Gas zur Flüssigkeit langsam auf ein Gleichgewicht zwischen Schwerkraft und Auftrieb zusteuern.

Natürlich könnte die Röhre auch die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen haben und zur obersten Wolkenschicht aufgestiegen sein, aber das wäre ungewöhnlich. Verlassene WolkenTunnel waren von Vakuumröhren durchzogen und neigten dazu, sich im Lauf der Jahrtausende durch Osmose mit Gas anzureichern und schwerer zu werden. Bei Fassins Besuch vor zweihundert Jahren hatte Valseir bereits zusätzlichen Auftrieb gegeben, damit der Tunnel nicht zu schnell sank und den ganzen Wohn-und Bibliothekskomplex mit hinabzog. Außerdem hätte das verlassene Stück, wenn es gestiegen wäre, im gleichen Atmosphäreband bleiben und irgendwo auf den Karten der Poaflias auftauchen müssen, und das war nicht der Fall.

Er zog weiter seine Spiralen, hielt die Geschwindigkeit niedrig und setzte seine Schallsensorik nur sehr behutsam ein, um es etwaigen Lauschern schwerer zu machen, ihn zu finden. (Könnte ihm der Colonel gefolgt sein, ohne dass er es merkte? Wahrscheinlich schon. Aber warum sollte sie? Dennoch hatte er das Gefühl, möglichst diskret vorgehen zu müssen.) Mit Licht war nicht viel zu erreichen. WolkenTunnelwände wären hier unten fast durchsichtig. Sonden, die auf Magnet-oder Strahlungsspuren ansprachen, nützten noch weniger, und Geruchsspuren gab es sicher auch nicht.

Nach zwei Stunden – die Zeit, die er, ohne Verdacht zu erregen, außerhalb des Hauses verbringen konnte, war fast verstrichen, er hatte die Diskretion schon längst zum Teufel gejagt und seine Aktivsensoren auf maximale Leistung hochgefahren  – fand Fassin ein Ende des WolkenTunnels. Es ragte wie ein riesiges schwarzes Maul aus dem geleedicken Nebel. Er steuerte das kleine Gasschiff in den vierzig Meter breiten Rachen und drehte seine Schallsensorik auf, denn jetzt wären die Signale von den Wänden des WolkenTunnels abgeschirmt. Er steigerte auch seine Geschwindigkeit und schoss wie der Geist eines längst verstorbenen Dwellers durch die große, sanft geschwungene Röhre.

Das Arbeitszimmer war noch da, er fand es, eine Hohlkugel, die die Röhre fast ganz ausfüllte, ziemlich in der Mitte des achtzig Kilometer langen WolkenTunnels. Aber es war gründlich durchwühlt und leer geräumt worden. Irgendjemand hatte alles weggeholt oder zerstört, was hier an Geheimnissen geruht haben mochte.

Fassin schaltete einige Lichter ein und sah sich um, aber es war nichts heil geblieben, es gab nur leere Regale und zerbrochene Carbonfaserbretter, Diamantstaub lag wie Raureif über allem, und wo er vorüberkam, wirbelte er Faserreste auf.

Er formte mit seiner Schallsensorik eine kleine Höhle und sah, wie sie sofort zusammenbrach, erdrückt vom tödlichen Gewicht der Gassäule darüber. Wer würde hier nicht unter Beklemmungen leiden?, dachte er. dann stieg er auf dem gleichen Weg, den er gekommen war, langsam wieder zum Haus und zur Bibliothek Einundzwanzig empor.

Der Colonel erwartete ihn. Sie schien überrascht, als er durch die Geheimtür kam, dabei hatte er ihr gesagt, was er vorhatte.

»Major. Seher Taak. Fassin«, sagte sie. Es klang … seltsam.

Fassin sah sich um. Sonst war niemand da. Gut, dachte er. Laut sagte er: »Ja?«, und ließ die Bücherschranktür hinter sich zufallen.

Hatherence schwebte auf ihn zu und hielt in einem Meter Abstand an. Ihr Schutzanzug zeigte ein einheitlich dumpfes Grau, das er noch nie gesehen hatte.

»Colonel«, fragte er. »Geht es Ihnen gut? Ist alles …«

»Es ist … Sie müssen sehr tapfer sein … ich … es tut mir Leid … Fassin, ich habe schlechte Nachrichten«, stieß sie endlich mit brechender Stimme hervor. »Sehr schlechte Nachrichten. Es tut mir so Leid.«

Der Archimandrit Lusiferus wollte sich auf die Ideen der ›Wahrheit‹ nicht wirklich einlassen. Natürlich hatte er sich im Verlauf seines Aufstiegs durch die Reihen der Cessoria den Anschein gegeben, daran zu glauben, auch war er ein begabter Verkünder des Evangeliums und ein Disputant, der oftmals wortgewaltig, mit viel Logik und Leidenschaft für die Kirche und ihre Ansichten stritt. Das hatte ihm viel Lob eingetragen. Er sah immer, wenn seine Vorgesetzten beeindruckt waren, auch dann, wenn sie es ihm oder gar sich selbst gegenüber nicht eingestehen wollten. Er hatte ein Talent für Streitgespräche. Und er konnte sich verstellen, konnte lügen (wenn man solch grobe, wenig nuancierte Begriffe verwenden wollte), konnte so tun, als glaubte er an eine Sache, während sie ihm bestenfalls gleichgültig war. Es hatte ihn nie tiefer berührt, ob die ›Wahrheit‹ auch wirklich die Wahrheit war.

Der Glaube an sich interessierte, ja faszinierte ihn, nicht als intellektuelle Idee, nicht als Konzept oder als abstraktes System, sondern als eine Möglichkeit, Menschen zu beherrschen, sie zu verstehen und dadurch zu manipulieren. Letzten Endes war der Glaube für ihn eine Schwäche, ein Fehler, den andere hatten, er aber nicht.

Manchmal konnte er es gar nicht fassen, wie viele Vorteile andere ihm bereitwillig überließen. Sie hatten den Glauben, nahmen einfach ungeprüft hin, was man ihnen sagte und taten deshalb Dinge, die ganz offensichtlich nicht in ihrem eigenen unmittelbaren (oder oft auch langfristigen) Interesse waren; sie liebten ihren Nächsten und taten wiederum Dinge, die nicht unbedingt zu ihrem Vorteil waren; sie hatten sentimentale oder emotionale Bindungen und ließen sich dadurch einmal mehr zu Handlungen nötigen, die ihnen sonst niemals in den Sinn gekommen wären. Und – das hielt er manchmal für das Beste überhaupt – sie neigten dazu, sich selbst zu täuschen. Sie hielten sich für tapfer, obwohl sie eigentlich feige waren, sie bildeten sich ein, selbständig denken zu können, obwohl das ein krasser Irrtum war, sie waren überzeugt von ihrer Intelligenz, während sie nur gut darin waren, prüfungen zu bestehen, oder verwechselten Sentimentalität mit Anteilnahme.

Wahre Kraft kam aus einer ganz einfachen Maxime: Betrüge dich niemals selbst; täusche immer nur andere.

So viele Vorteile! So viele verschiedene Dinge, mit denen man ihm das Vorwärtskommen erleichterte. Wäre jeder, dem er begegnete, jeder Rivale, jeder Gegner in dieser Hinsicht genau wie er gewesen, der Aufstieg zur Macht wäre ihm sehr viel schwerer gefallen. Vielleicht hätte er ihn auch gar nicht geschafft, denn ohne diese Vorteile hing fast alles nur vom Glück ab, und das hätte womöglich nicht gereicht.

Früher hatte er sich öfter gefragt, wie viele von seinen alten Chefs, den Ordensoberen der Cessoria, tatsächlich an die ›Wahrheit‹ glaubten. Er vermutete stark, je weiter man nach oben ginge, desto größer würde der Anteil derer, die an gar nichts glaubten und dem Orden nur angehörten, um am Glanz und an der Herrlichkeit der Macht teilzuhaben und über andere zu herrschen.

Heute machte er sich darüber kaum noch Gedanken. Er setzte einfach voraus, dass in solchen Positionen nur radikale Zyniker und Egoisten saßen. Hätte er in den obersten Rängen der Hierarchie einen wahren Gläubigen gefunden, er wäre nicht nur überrascht, sondern sogar ein wenig empört gewesen. Als hätte der Betreffende die eigenen Leute verraten und fühlte sich nun – welch groteske Idee! – seinen weniger verblendeten Standesgenossen womöglich noch überlegen.