Jetzt konnte er sich aus der Höhlung befreien. Er schob sich mit den Ellbogen nach vorne. Seine Augen begannen zu tränen. Endlich konnte er weinen. vor Anstrengung zitternd zog er einen klebrig glitschigen Kiemenwasserfaden aus seinem rechten Nasenloch, öffnete den Mund und schluckte etwas von dem Gas.
Nasqueron roch nach faulen Eiern.
Er blinzelte die Tränen weg, so gut es ging, und sah sich um. Der Interfacekragen saugte sich an seinem Hals fest, um den Kontakt nicht zu verlieren, als er sich streckte, um nach oben zu schauen. Alt und schmutzig sah dieses Nasqueron aus. wie eine große Schüssel mit schaumig geschlagenen Eiern, in die man eine Ladung flüssiger Scheiße eingerührt hatte, um das Ganze dann mit Blutströpfchen zu bespritzen. Und es hinterließ einen schwefligen Geschmack im Mund. Fassin ließ den Kiemenwasserfaden zurückschnellen. Er verschloss das Nasenloch und versorgte ihn wieder mit reiner, sauerstoffreicher Luft. Nur der Gestank blieb zurück.
Fassin schwitzte vor Anstrengung, aber auch, weil es heiß war. vielleicht hätte er das Manöver besser weiter oben durchgeführt.
Jetzt brannten ihm nicht nur die Augen, auch die Nase kribbelte. Ob er wohl trotz des Kiemenwassers niesen konnte? Oder würde er so lange würgen und keuchen, bis ihm das widerliche Zeug aus der Lunge hochstieg, aus allen Körperöffnungen spritzte und an der Seite des Gasschiffs kleben blieb wie blassblauer Seetang, während er jämmerlich erstickte?
Dann trübten ihm die Tränen vollends den Blick. Nasquerons giftiger Himmel hatte ihm endlich entrissen, was er selbst nicht hatte ausdrücken können.
Alle.
Der ganze Sept.
Sie waren frühzeitig in den Winterkomplex umgezogen. Dort hatte die Rakete eingeschlagen und alle getötet: Slovius, Zab, Verpych, die ganze Familie, die Menschen, mit denen er aufgewachsen war, die er als Kind und später gekannt und geliebt hatte, die ihn zu dem gemacht hatten, der er jetzt war oder bis eben noch gewesen war.
Es war schnell gegangen. Wirklich nur ein Augenblick, aber was half ihm das? Sie hatten keinen Schmerz gespürt, aber sie waren tot, fort, unwiederbringlich verloren.
Nein, nicht unwiederbringlich. Er konnte nicht aufhören, sich zu erinnern, konnte nicht aufhören, sie in seinem Kopf wiederauferstehen zu lassen, und sei es nur, um sie um Verzeihung zu bitten. Er hatte Slovius empfohlen, das Herbsthaus zu verlassen. Aber er hatte an einen neutralen Ort gedacht, ein Hotel oder einen Universitätscampus, stattdessen hatten sie sich – ein Kompromiss – nur für eine andere Jahreszeitenresidenz des Sept entschieden. Und das war ihnen zum Verhängnis geworden. Er hatte sie getötet. Sein wohlgemeinter Rat, sein Wunsch, die Seinen zu behüten und zu beschützen und sie wissen zu lassen, dass er an sie gedacht hatte, hatte sie ihm entrissen.
Sollte er das Schiff noch weiter nach vorne kippen, über die Senkrechte hinaus, um sich dann einfach fallen zu lassen? Hinabgezogen von der eigenen Masse und vom mächtigen Sog der Gasriesenschwerkraft, die ihm das Kiemenwasser aus den Lungen presste und vielleicht noch Teile des Gewebes mitnahm. Die ihm gerade noch erlaubte, seinen blutig geschundenen Körper mit Gas zu füllen für einen letzten Schrei – mit Falsettstimme, als hätte er Helium aus einem Luftballon geatmet – bevor es ihn vollends in Stücke riss und er in die Tiefen stürzte.
Die Botschaften waren etwa zu der Zeit eingetroffen, als er durch die Trümmer von Valseirs Arbeitszimmer schwebte. Die ersten schockierten Signale, die verstümmelten Anfragen, die offiziellen Mitteilungen, die Beileidsbekundungen und Hilfsangebote, die Erkundigungen, gefolgt von Bitten um ein Lebenszeichen, die Beiträge in den Nachrichten, die geänderten Befehle der Ocula: alles war in einem einzigen Schwall, einem wirren Datenknoten über sie hereingebrochen. Die Geheimhaltungspflicht für alle Korrespondenz der Justitiarität, besonders in Zeiten der Gefahr, das übliche Chaos im Funkverkehr der Dweller im Allgemeinen und der Zusammenbruch der sonst reibungslos laufenden Signal protokolle im Gefolge des Formalkriegs im Besonderen, noch verschärft innerhalb der eigentlichen Kriegszone, hatten zusammengewirkt und zu erheblichen Verzögerungen geführt.
Tot. alle tot. Nein, nicht alle (ein Sept war nicht klein, und so sauber arbeitete die Realität nur selten). Nur so gut wie alle. Fünf Jungdiener, auf Urlaub oder mit einem Auftrag unterwegs, hatten überlebt, ebenso eine Cousine zweiten Grades mit ihrem kleinen Sohn. das war alles. gerade genug, um einen sauberen Schnitt zu verhindern, der zwar schrecklich gewesen wäre, ihn aber gezwungen hätte, weiterzumachen, Führungsstärke zu zeigen, tapfer zu sein … all den so leicht dahingesagten Klischees zu genügen. Seine Mutter war schon seit einem halben Jahr in einem Cessoria-Habitat im Kuiper-Gürtel in Klausur und hätte überleben können, aber sie war bei einem anderen Angriff umgekommen, der vermutlich nichts mit dem Anschlag auf den Sept zu tun hatte. Schieres Pech.
Vermutlich sollte er dankbar sein, dass Jaal zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht zu Besuch im Winterhaus gewesen war und deshalb noch lebte. Stattdessen hatte er eine ganze Serie von Botschaften von ihr erhalten, im Ton beunruhigt, schockiert, weinerlich und schließlich wie benommen. Die letzten Mitteilungen enthielten nur noch flehentliche Bitten, sich zu melden, wenn er könne, wenn er am Leben sei, wenn er sich irgendwo in Nasqueron befinde und dies höre oder lese …
Die Ocula der Justitiarität hatte ihn seit dem Angriff auf Third Fury als vermisst geführt. Offiziell war das immer noch sein Status. Man war erst sicher gewesen, dass er und Colonel Hatherence überlebt hatten, als man Tage später auf Umwegen ihr Signal empfangen hatte. Daraufhin hatte man beschlossen, seine Rettung zunächst geheim zu halten. Sein Interview mit dem Nachrichtensender in Hauskip hatte die Sache kompliziert – es wurde jedoch bereits ohne Zutun seiner Vorgesetzten als Fälschung gebrandmarkt – und im Anschluss nicht geringe Verwirrung gestiftet. Solange er nur vermisst war, galt er von Amts wegen als lebend und war damit Oberster Seher des Sept Bantrabal. Daran würde sich noch mindestens ein Jahr lang nichts ändern.
Die Lage im Ulubis-System war noch immer verzweifelt, und die Bedeutung ihrer Mission hatte sich mit den letzten feindlichen Aktionen der Invasoren und/oder der Beyonder weiter erhöht.
Als der ganze Wust durchkam, ja, noch während die Signale mit intakten Verschlüsselungen und unter Anzeige aller Pfade in den Speicher des Gasschiffs übertragen wurden, dachte er immer wieder: Vielleicht ist alles nur ein schlechter Scherz oder ein schrecklicher Irrtum. Selbst als er im Film in den wogenden Hügeln des Großen Ualtus-Tals, da, wo einst das Winterhaus gestanden hatte, den rauchenden Krater sah, hatte er es nicht glauben wollen; es musste eine Fälschung sein. alles war eine einzige Fälschung.
Der Angriff war etwa gleichzeitig mit der Bombardierung von Third Fury erfolgt. Der winzige Blitz, den er auf der Oberfläche von ’glantine gesehen hatte, als sie mit dem Absetzschiff auf Nasqueron zustürzten, war der Einschlag gewesen. In dieser Sekunde waren sie alle umgekommen, seit diesem Augenblick war er allein. Die erste Nachricht der Justitiarität, noch vor der Datenblockade, die sie so viele Tage in Unwissenheit gehalten hatte, jene Nachricht, in der ihm die Behörde ihr Bedauern angesichts seines Verluste ausdrückte, hatte sich nicht nur auf die Opfer von Third Fury bezogen, sondern auch auf dieses Unglück. Man hatte das Wrack des Absetzschiffs in den oberen Regionen der Tiefen gefunden, die Leiche des Meistertechnikers Herv Apsile befand sich noch darin. Man konnte den Eindruck gewinnen, jemand hätte alles bedacht und dafür gesorgt, dass nichts und niemand gerettet wurde, dass ihm nichts blieb. Oder fast nichts. Nur ein paar Diener, die er kaum kannte, eine Cousine zweiten Grades, für die er eine mäßige Zuneigung empfand, ein Kleinkind, von dem er nicht einmal wusste, wie es aussah. Und Jaal. Aber würde – konnte – diese Beziehung je wieder so werden wie früher? Er hatte seine Verlobte gern, aber er liebte sie nicht, und er war ziemlich sicher, dass sie ebenso empfand. Es wäre eine gute Partie gewesen, aber nach alledem würde er ein anderer Mensch sein, selbst wenn er von diesem schwachsinnigen Abenteuer jemals zurückkehrte, selbst wenn es etwas gäbe, zu dem er zurückkehren konnte, selbst wenn der kommende Krieg bis dahin nicht alles zerstört oder von Grund auf verändert hätte. Würde ihr Sept denn überhaupt noch wollen, dass sie in einen Sept einheiratete, der gar nicht mehr existierte? Wo war jetzt die gute Partie, die Vernunftheirat? Würde Jaal ihn überhaupt noch wollen, und wenn ja, würde sie nicht nur aus Pflichtbewusstsein seine Frau werden, aus Mitleid, weil sie glaubte, sich an den Vertrag halten zu müssen, komme, was da wolle? Und wären das nicht die besten Voraussetzungen für eine Ehe voller Vorwürfe und Verbitterung?