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Man kann überhaupt sagen, daß das Dumme am Sterben ist, daß man es nicht öfter tun kann.

Es geschah nun, daß ein Kletterer, der links von mir nach oben stieg, sich gestisch anbot, mir zu helfen. Irgendein widerlich-lässiger Mensch mit Rastalocken, der sich mit seinen Fingerspitzen an einem winzig kleinen Element festhielt — auch schwarz, auch Lakritze, aber bloß ein Bonbon — und mit seiner freien Hand Zeichen in die Luft schrieb.

«Fick dich doch!«sagte ich. Weil es aber so laut in der Halle war, sagte ich es lautlos, meine Worte jedoch deutlich mit dem Mund malend.

In diesem Moment tat Mick einen Zug am Seil, heftig genug, daß ich endgültig den Halt verlor, zur Gänze aus der Wand geriet und in einem leichten Bogen zur bisherigen Route zurückschwang beziehungsweise schrammte, mit dem Knie gegen ein gelbes Teil schlagend. Ich schluckte, statt aufzuschreien. Immerhin wurde ich ein Stück nach oben gezogen und erreichte Elemente, auf denen meine Hände und Füße ausreichend Platz fanden. Ich spürte, wie Blut aus meinem Knie brach. Na, besser Blut als Urin.

Ich nutzte diesen Befreiungsschlag, um aus meiner Starre zu tauchen und den Weg nach oben fortzusetzen. Nicht, daß meine Angst sich gegeben hatte oder mit der steigenden Höhe eine emotionale Temperaturumkehr stattgefunden hätte, aber ich war wie losgetreten, als fiele ich nach oben. Auf eine weitere Lakritzenverkostung verzichtete ich freilich. Mied das Schwarz.

Am höchsten Punkt angekommen, vier Stockwerke oder so, griff ich nach der finalen Kante und rief laut aus:»Oben!«

Nun, das war weder ein Moment der Intelligenz noch der Poesie. Sondern der Erleichterung. Trotz beträchtlicher Höhe.

«Loslassen!«verlangte Mick. Ich ahnte es mehr, als daß ich ihn wirklich hörte. Es war ganz einfach logisch.

Wenn man als Laie etwas bestens kennt, dann ist es die Abwärtsbewegung von Bergsteigern am Seil, das charakteristische Bild, wie sie sich mit ihren Beinen vom Felsen abstoßen und in jener hüpfenden Weise nach unten gelangen.

Ich bemühte mich um eine ähnliche Haltung.

«Hände ans Seil!«rief Mick hoch.

Aber ich brauchte meine Hände, um immer wieder nach den Beulen und Auswucherungen und Bonbons zu greifen, sie kurz zu berühren, nur für den Fall, daß das Seil riß oder sich der Knoten löste, Dinge, die wohl kaum geschehen würden, so wie in aller Regel auch niemand von herumfliegenden Teilen eines Walfisches getroffen wird.

Erst ganz zum Schluß befolgte ich Micks Anweisung, umklammerte das Seil auf Höhe meiner Brust und landete mit beiden Beinen am Fuße der Kletterwand.

«Wow!«sagte Kerstin Heinsberg.

«Was meinen Sie damit?«fragte ich und sah sie streng an. Wollte sie mich auslachen?

Sie aber erklärte, sie hätte niemals die Nerven, so eine Wand hochzuklettern. Denn abgesehen davon, daß die Kraft in ihren Armen einzig und allein ausreiche, Stifte zu halten und Tastaturen zu bedienen, leide sie unter Höhenangst.

«Ich auch«, verriet ich ihr.

«Ja, das hat mir Ihr Freund gerade erzählt. Und genau aus dem Grund sage ich: Wow!«

Und schon wieder hatte Heinsberg es geschafft, mir ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Wobei ich mich ertappte, wie sehr ich diesen Zustand genoß. Es war das gewohnte Spiel zwischen uns, und ich war glücklich, es erneut spielen zu dürfen. Glücklich, in das ungleiche Augenpaar schauen zu dürfen. Das Rehbraun und das trübe Blau.

Wie nebenbei warf ich auch noch einen kurzen Blick auf mein geschundenes Knie. Doch die Wunde war minimal. Ein roter Punkt bloß, als wäre ich ein verkauftes Kunstwerk in einer Galerie.

Während ich noch immer mit dem Seil verbunden war, machte ich Heinsberg und Mick miteinander offiziell bekannt, wobei mir jetzt erst bewußt wurde, Micks Nachnamen gar nicht zu kennen.

«Blumberg«, stellte er sich selbst vor.

«Wie der Bürgermeister von New York«, meinte Heinsberg.

«Nein, wie die Stadt im Schwarzwald«, sagte er.

Mir hingegen schien es amüsant, daß hier gleich zwei Menschen standen, deren Nachname mit» Berg «endete, und dies angesichts einer Welt aus künstlichen Felsen. Von dem gleichnamigen Schwimmbad unten im Tal einmal abgesehen.

In diesem Moment geschah aber noch etwas anderes, und dies war wirklich von Bedeutung. Eine Freundin von Mick trat zu uns, so daß sich eine erneute Runde gegenseitigen Bekanntmachens ergab. Dabei erwähnte Mick, ich sei der Vater von Simon. Simon, der bereits ungeduldig darauf wartete, eine weitere, diesmal sehr viel schwierigere Wand und Route hochzusteigen.

Micks Freundin kniete sich zu Simon hinunter und überprüfte seine Ausrüstung. Offenkundig würde sie diesmal die Sicherung am Seil übernehmen. Und dann sagte sie etwas, was mir einen Stich gab, sie sagte, indem sie sich zu mir hindrehte:»Man sieht sofort, daß er Ihr Sohn ist. Wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Ich erwiderte:»Aber seine Augen sind schon andere, gell?«

«Anders geformt«, sagte sie,»aber derselbe Ausdruck. Das ist ja das Tolle. Wie man trotz eines solchen Unterschieds die große Ähnlichkeit erkennt. Die Gene setzen sich halt durch.«

Heinsberg lächelte mich an und meinte:»Na, was sage ich Ihnen immer? Vielleicht glauben Sie mir jetzt endlich.«

Mick, der um die wahren Verhältnisse, also die Adoption, ebensowenig wie seine Freundin wußte, stimmte zu. Er sagte:»Aber beim Klettern ist Ihr Sohn schon besser.«

Was dieser nun auch gleich bewies, indem er eine Wand in Angriff nahm, die in dieser Halle zu den schwersten zählte und welche bereits zu Beginn schräg nach innen führte und in der sich sodann ein Überhang an den anderen reihte. Eine Masochistenwand. Allein vom Hochsehen kriegte ich einen Stein im Magen. Eingedenk solcher Konstrukte stellte sich eigentlich weniger die Frage, wieso Menschen unter Höhenangst litten, sondern eher die, wieso manche nicht. Beziehungsweise wie es ihnen gelungen war, ihre Angst zu umgehen.

Die Frage, die sich aber vor allem aufdrängte, stellte jetzt Heinsberg:»Meine Güte, woher kann er das?«

Sie sah ungläubig zu, wie Simon zügig Meter um Meter hochkraxelte und in regelmäßigen Abständen das Seil in die fix montierten Expressen fügte, wobei er das Seil zuvor zwischen die Zähne zu nehmen pflegte.

Ich blickte Heinsberg vergnügt an und meinte:»Mag ja sein, daß er sein Gesicht von mir hat, aber die Lust am Vertikalen muß er seiner Mutter verdanken. Sie war immerhin Hirnforscherin. Vielleicht hat sie den Hirnlappen manipuliert, wo die Höhenangst einsitzt.«

«Das erklärt aber nicht, warum er sich so bewegt, wie er sich bewegt.«

«Richtig. Aber seine Vorgeschichte ist doch Ihr Fall, oder nicht?«

«Nun, er ist in den Bergen aufgewachsen«, konstatierte Heinsberg das Bekannte.»Und hatte dort offenkundig einen Lehrer. Ich stelle mir so was wie einen kletternden Mönch vor.«

«Das wäre dann filmreif«, fand ich, fragte aber endlich, was Heinsberg hier eigentlich tue.

«Na, ich besuche Sie«, sagte sie und erzählte, ein paar Tage bei ihren in den Vogesen lebenden Eltern verbracht zu haben. Während der Rückreise sei ihr die Idee gekommen, in Stuttgart vorbeizuschauen. Es sollte eine Überraschung sein.

«Es ist eine Überraschung«, sagte ich. Und ergänzte:»Eine schöne.«

Wie sich herausstellte, hatte eine meiner Nachbarinnen, eine ältere Dame und Witwe, Heinsberg verraten, wo ich zu finden sei. — Klar, Heinsberg besaß meine Handynummer und hätte sich also bei mir ankündigen können, aber ihr war wohl sehr am Effekt der Überraschung gelegen. Es schien ihr geliebtes Prinzip, mich zu überfallen.

«Müssen Sie dann gleich wieder weiter?«fragte ich.

«Ich habe morgen noch frei.«

«Dann bleiben Sie doch bei uns, heute abend, meine ich, finde ich. Wir könnten essen gehen, und ich besorge Ihnen ein Zimmer.«