«Ach was! Das ist wie mit der Kunst«, sagte Chen.»Die ist auch nur für wenige. Ist sie darum verbrecherisch?«
«Kunst kann man ins Museum hängen«, erwiderte die Französin.
«Und trotzdem gehen nicht alle Menschen dorthin. Nein, meine liebe Freundin, ich bleibe bei meinem Weg. Ließe ich zu, daß KAI–Cremes zum Massenprodukt werden, sie würden ihren Zauber verlieren. Magie ist immer auch eine Frage der Menge. Das ist der Grund, daß es so wenige Wunder gibt. Man kann nicht alle Leute heilen. Außerdem: Nicht alle Reichen leisten sich KAI, und nicht alle, die sich KAI leisten, sind reich.«
«Dennoch, Sie müssen aufpassen, Monsieur Chen«, wiederholte die Französin. Und meinte, daß die Leute in der Kosmetikindustrie kaum zimperlicher seien als die Herren Waffenproduzenten oder die Haifische in den Pharmakonzernen. Und wenn man sich nur vorstelle, G7 halte, was es verspreche …
«Es verspricht nichts anderes als eine Belebung der Gesichtshaut.«
«Belebung ist das richtige Wort. G7 verspricht Leben. Gleich, ob Sie das beabsichtigt hatten oder nicht.«
«Der Effekt, wenn er denn besteht«, sagte Chen, der ja immerhin soeben erfahren hatte, Vater zu werden,»ist in keiner Weise gewollt. Purer Zufall.«
«Oh mon Dieu!«tönte die noble Greisin.»Das meiste, was entdeckt wird, ob Cremes oder Landmassen, ist Zufällen zu verdanken. Auch wenn die Zufälle vielleicht ein System verraten. Jedenfalls wird man Sie nicht in Ruhe lassen.«
Chen grinste. Aber er erkannte die ernste Sorge im Gesicht der alten Frau.
Sie aßen zu Ende, dann bestellte man zwei Taxis.
Als sie Auden zum Abschied die Hand reichte, fragte die Französin:»Ich weiß gar nicht, ob Sie Familie haben, Chen. Ich meine, abgesehen von Ihren Eltern.«
«Nein, keine Familie.«
«Das ist gut so.«
«Warum?«
«Sollte jemand auf die Idee kommen, Ihnen zu drohen, ist immer die Frage, womit er Ihnen droht. Ohne Frau und ohne Kind ist man da sehr viel besser dran. Oder was meinen Sie?«
«Ganz sicher«, sagte Chen und küßte den Handrücken der alten Dame. Er roch nach Holz und Waldboden und Pilzen und dem Wechsel der Jahreszeiten. Er wäre gerne noch etwas länger mit seiner Nase über diesem Handrücken verblieben. Richtete sich freilich auf und sagte:»Adieu!«
Später, in seinem Hotelbett liegend, überlegte er, wie absolut richtig das war, was die Französin ihm erklärt hatte, wieviel unabhängiger und mutiger man in seinen Entscheidungen sein konnte, wenn man durch selbige nur sich selbst gefährdete. Indem er sich aber demnächst — möglicherweise — zu einem Kind bekannte, welches Lana in ihrem Körper trug, würde er sich genau dieser Freiheit berauben.
Fragte sich, ob denn ernsthaft eine Gefahr bestand. Hier ging es schließlich nicht um den Irak, nicht um Bombencodes oder um die nationale Sicherheit. Auch nicht um den Weltmarkt von Kokain.
G7 war keine Droge.
Wirklich nicht?
Er dachte nach. Dachte an die freundlichen Angebote, die ihm bislang unterbreitet worden waren. Wie er sein ihm allein gehörendes Unternehmen in eine» unabhängige Tochter «eines der großen Kosmetikhersteller verwandeln oder sich an einem Joint-venture beteiligen könnte.
Er hatte sich das ein jedes Mal in Ruhe angehört, wie da mit Zahlen jongliert wurde, Zahlen, die mit jedem Satz größer und hübscher wurden, gleich prächtigen, heiratsfähigen Kindern — und sodann dankend abgelehnt. Er hatte sich letztendlich wie einer dieser Kleinbauern verhalten, die ihr Land für kein Geld der Welt hergeben wollen und sich einer Straße oder einem Staudamm entgegenstellen.
Freilich, all diese Straßen und Staudämme und Supermärkte werden dann trotzdem gebaut.
War er also ernsthaft in Gefahr? Er fragte sich, ob solche Szenarien nicht eher der Dramaturgie einer Fiktion entsprachen. Romanhaft. Filmreif. — Natürlich, auch wirkliche Menschen wurden umgebracht, ebenjene Kleinbauern. Und selbst Leute in Anzügen kamen hin und wieder unter die Räder. Aber wie weit würde eine Firma gehen, deren freundliche oder auch unfreundliche Angebote nicht fruchteten? L’Oréal, Nestlé und wie sie alle hießen. Waren das wirklich die Mafiabetriebe, als die die Weltverbesserer sie gerne sahen, sich ihr Feindbild mit heftigem Strich ausmalend?
Nun, der Fehler war wohl, sich die Mächtigen der Welt noch immer als» Bosse «zu denken, Bosse, welche mittels einer kleinen, abfälligen Bemerkung quasi ein Todesurteil unterschrieben. Während sie in Wirklichkeit so waren, wie Audens Namenspatron, Wystan Hugh Auden, sie dargestellt hatte:
Hell, bis tief in die Nacht
Sind die Fenster
Der Mächtigen, und dort hocken sie tiefgebeugt
Über irgendeinem
Erschöpfenden Bericht über dies oder das,
Immerzu, wie ein Gott oder eine Krankheit
Auf dieser Welt, die der große Grund ist, aus dem
Sie so müd sind …
Es handelte sich um eine Stelle aus W.H. Audens Gedicht Die Manager. Chens Eltern hatten es ihm oft vorgelesen, wie andere Kinder Gutenachtgeschichten von Bären und Hasen und melancholischen Monstern erzählt bekommen. So war der kleine Chen nicht nur mit der englischen Sprache aufgewachsen, sondern auch mit poetischen Bildern, die fern dem Kindlichen standen. Ja, man konnte sagen, die poetischen Bilder eines schwulen, linken, letztlich auch noch katholischen Pulitzer-Preisträgers hatten Chen durch die Kindheit begleitet und seine Phantasien angeregt. Nicht, daß er alles verstanden hatte. Aber er hatte auch nicht alles von Alice im Wunderland und Horton hört ein Hu! verstanden oder in dem dicken Buch mit den chinesischen Märchen. Nicht alle Geschichten im Leben und im Buch waren so einfach gestrickt wie bei diesen Jungs, die sich Die drei Fragezeichen nannten.
Manche Dinge mußte man erst einmal fühlen und ahnen und riechen und schmecken und sich vor ihnen fürchten, bevor man sie irgendwann begriff.
Wenn er an die Mondlandung der Amerikaner dachte, dann weniger an das berühmt-vertrottelte Gleichnis vom kleinen und vom großen Schritt, sondern vielmehr an W.H. Audens Aussage, daß es sich hierbei um einen» Phallus-Triumph «der» Boys «gehandelt habe und daß»vom Augenblick an, da der erste Stein beschabt wurde, diese Landung nur eine Frage der Zeit war«. — War ein beschabter Stein nicht ein ungleich stärkeres Bild als besagter Fußabdruck im schwarzweißen Staub?
Nach W.H. Auden waren die Mächtigen also müde von der großen Welt, die sie beherrschten.
Freilich, auch müde Menschen unterschrieben Todesurteile. Wenngleich längst nicht mehr auf den Rückseiten von Spielkarten. Heutzutage ging es profaner und pragmatischer zu. Doch diese gewisse Blässe der Mächtigen änderte nichts daran, daß weiterhin unliebsame Menschen aus dem Weg geräumt wurden, auf die eine oder andere Weise. Menschen verschwanden, und was nützte es schon, wenn sie auf Facebook weiterlebten oder sogar einen Wikipediaeintrag gleich einem Grabstein besaßen.
Die alte Französin — nicht gerade die typische Weltverbesserin, aber ziemlich realistisch — hatte Chen einen Floh ins Ohr gesetzt. Es war kein Riesenfloh, aber seine Anwesenheit deutlich spürbar.
Übrigens war Auden Chen in der Tat die einzige Person in seinem Unternehmen, welche die genaue Formel von G7 kannte. Wobei er die Rezeptur, so kompliziert sie war, tagtäglich memorierte. Ein kleines Gebet, das ihm guttat. Die einzige schriftliche Aufzeichnung der Zusammensetzung — wie auch aller anderen Rezepte des KAI-Programms — hatte er an den Seitenrand einer Erstausgabe von W.H. Audens The Age of Anxiety notiert. Es versteht sich, daß er dieses Büchlein stets bei sich trug und dafür in allen seinen Sakkos Extrataschen hatte einnähen lassen, etwas, was wiederum nur seine beiden engsten Mitarbeiter wußten.