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Den Zug nach Adelaide also. Eine umständliche Art, die über vierzig Stunden in Anspruch nahm und eigentlich allein von Touristen genutzt wurde, die den Verlust an Zeit als» schöne Erfahrung «verbuchten.

Doch genau diese Umständlichkeit erschien Auden als der sicherere Weg. Was ja für die meisten Dinge im Leben galt.

Auden nutzte die lange Fahrt, um einige weitreichende Entscheidungen zu treffen. Er beschloß zu verschwinden. Er beschloß, quasi aus dem Stand heraus seine bisherige Existenz abzuschütteln und an anderem Ort und in gänzlich anderer Bestimmung ein neues Leben zu beginnen. Nur auf diese Weise würde er sich und die anderen, vor allem Lana und das Kind, schützen können. Und wohl auch seine Eltern, die ja noch immer in den Staaten lebten. Nur so würde er unangreifbar werden. Denn um jemanden zu erpressen, mußte er doch erreichbar sein, oder? Auch die bösesten Briefe benötigten einen Adressaten.

Er wollte unsichtbar werden. Unsichtbar für die, die offensichtlich bereit waren, noch so häßliche Wege zu beschreiten, um an das Rezept von G7 zu gelangen. Dazu war allerdings nötig, die Spuren in die Unsichtbarkeit so gering als möglich zu halten. Weshalb es sich verbot, jetzt seinen Anwalt anzurufen und sein Vermögen auf Lana zu übertragen oder dergleichen. Solcherart hätte er Lana erst recht in Gefahr gebracht. Nein, sein Verschwinden mußte so gut wie ansatzlos sein.

In Adelaide würde er ein letztes Mal Bargeld abheben, genug, um sich gefälschte Papiere zu besorgen und die Kosten der Reise zu bestreiten, die ihn an einen neuen Ort bringen würde. Danach wollte er seine Kreditkarten zerschnipseln. Eine Art von Suizid.

Doch welcher Ort sollte es sein, an den er gehen wollte?

Auden überlegte, daß, wenn Menschen geheime Zufluchten wählten, sie bei aller Geheimhaltung dennoch persönlichen Vorlieben erlagen. Wenn sich Leute in Venedig versteckten, dann, weil sie vorher so viel Donna Leon gelesen hatten. Freunde des Reggaes flüchteten gerne in die Karibik, Single-Malt-Fans bevorzugten … So wie man ja auch bei der Benutzung von Codewörtern gerne die eigenen Leidenschaften oder gar die Namen der eigenen Familie ins Spiel brachte. Das war unklug, aber die Regel.

Genau dies jedoch wollte Auden vermeiden. Der Zufall sollte bestimmen, wo er hinging. Der Zufall lag in keiner Weise in seiner Biographie begründet. Der Zufall war nicht eruierbar oder wenigstens schwer.

In einem dem Speisewagen benachbarten Lounge-Abteil fand Auden, was er benötigte, um den Zufall in Gang zu bringen: einen Atlas. Der Plan war, einfach eine beliebige Seite aufzuschlagen und, ohne hinzusehen, mit dem Finger über die Fläche irgendeines Landes oder Kontinents zu fahren, um dann in der Art eines Hochzeitsstraußes oder blind geworfenen Dartpfeils an einem bestimmten Punkt zum Halten zu kommen.

Doch Auden überlegte, daß, wenn er selbst dies unternahm, immer noch die Gefahr einer den Zufall konterkarierenden Lenkung bestand. Ein besserer Weg wäre somit, eine andere, eine fremde Person zu bitten, einen beliebigen Punkt in der Welt auszuwählen.

Im Speisewagen kam er mit einem kleinen Jungen ins Gespräch, der am Nebentisch saß, auf seine Mutter wartete, und eine Cola schlürfte. Daneben zeichnete er kleine Figuren auf ein Blatt Papier. Bunte Krieger.

«Ich hätte eine Bitte«, sagte Auden.

«Hm?«

Auden reichte dem Jungen den Atlas.»Kannst du mir einen Ort suchen?«

«Jetzt gleich?«

«Wäre nett von dir«, meinte Auden.»Ich kauf dir auch ’ne Cola.«

«Ich hab doch schon eine«, sagte der Junge und zeigte stirnrunzelnd auf die Flasche, als erkläre er einem Idioten, daß Kreise rund sind.

Aber Auden fragte:»Kannst du mir helfen oder nicht?«

«Was für ein Ort denn überhaupt?«

«Irgendeinen. Schlag den Atlas auf, wo du magst, fahr mit dem Finger auf der Karte herum, und dann entscheide dich für eine Stelle: eine Stadt, eine Insel, ein Dorf, ganz wie du möchtest. Nur nicht fürs offene Meer.«

«Und was hat das für einen Sinn?«

«Es ist ein Spiel.«

«Was für ein Spiel?«

«Eines, für das ich dich bezahle«, sagte Auden und legte Königin Elisabeth II. in Form einer Banknote auf den Tisch. Fünf Australische Dollar.

Der Junge betrachtete den Schein von der Seite und fragte, ob der echt sei.

«Klar.«

«Ich hätte noch gerne einen zweiten.«

«Komm, Junge, stell dich nicht an.«

Der Bub zog eine Schnute, griff aber nach dem Fünfer und steckte ihn ein. Sodann schlug er das dicke, breite Buch auf, blätterte ein wenig umher, entschied sich schließlich für eine Karte im vorderen Drittel, nahm einen blauen Zeichenstift und begann, eine wilde Linie über das Papier zu ziehen.

Klar, das war Sachbeschädigung. Aber Auden unterbrach das Kind nicht, um so mehr, als deutlich zu sehen war, wie sehr es dem Jungen Vergnügen bereitete, in Schlangenlinien, in engen Kurven und weiten Schlenkern über die eingeebnete Erdoberfläche zu fegen. Ohne Anstalten zu machen, an einem bestimmten Punkt zu verweilen, ihn einzukreisen und somit das vergütete Spiel zu beenden. Er ließ die Länder hinter sich gleich zerbombten Flächen.

Auden hätte ihn drängen wollen. Aber dies wäre dem Charakter des Zufalls zuwidergelaufen. Der Zufall mußte frei sein. Somit auch das Kind.

«Was machst du da?«Es war die Mutter des Jungen, die sich an den Tisch setzte.»Du kannst doch nicht … Woher hast du den Atlas?«

«Ich darf das«, sagte er und zwinkerte zum Nachbartisch hinüber, an dem Auden saß.

«Mach fertig!«kommandierte die Frau.»Das Essen kommt gleich.«

«Ja, ja.«

Und in der Tat, das Essen kam. Das Essen als Schere des Zufalls, eine Stelle in der Zeit durchschneidend.

«Hier!«rief der Junge, nachdem die Mutter ein sehr knappes Ultimatum gestellt hatte. Er hatte um den roten Flecken, der die Form und Ausdehnung einer größeren Stadt darstellte, mehrere blaue Kreise gezogen. Er hob den offenen Atlas hoch und reichte ihn Auden.

«Laß den Mann in Frieden«, mahnte die Mutter, die gar nichts verstand.

«Schon okay«, versicherte Auden und lächelte gütig. Dann betrachtete er die Karte, die mit» Süddeutschland, Schweiz«überschrieben war. Allerdings gehörte der von dem Jungen am rechten Rand eingekreiste Ort zum westlichen Teil Österreichs. Der Name der Stadt: Innsbruck.

Innsbruck also.

Auden war noch nie dort gewesen. Doch er wußte, daß diese Stadt in Tirol lag, in einem Tal mit Flughafenanschluß, eine von mächtigen Gebirgszügen freundlich eingekerkerte Landeshauptstadt, die erstaunlicherweise für ein Dach berühmt war, kein helles, flaches Nutzdach, natürlich nicht, sondern eins in Gold. Eine aus feuervergoldeten Kupferschindeln bestehende Abdeckung eines Erkers, den man an ein älteres Gebäude angefügt hatte, so, wie man heutzutage Lifte und Wintergärten und die hübschen Logos von H&M und ZARA und Peek & Cloppenburg auf die alten Fassaden klebte. Und damals eben — zwecks Einläutung der Zeitenwende — diesen stark dekorierten Erker samt einer Goldmedaille, die sich selbst ehrt.

«Danke, mein Junge«, sagte Auden und stand auf. Er hörte noch, wie die Mutter fragte:»Was wollte der Mann von dir?«

«Na, daß ich seinen Atlas anmale.«

«Kunstsammler oder Psychiater«, sagte die Mutter. Es klang, als meine sie es ernst.

Auden begab sich in sein Schlafwagenabteil, öffnete das Fenster und warf sein Handy samt der Pistole hinaus.

Jetzt sollten die Amerikaner mal versuchen, seine Position festzustellen. Oder die Franzosen oder Japaner oder …