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Er blickte hinaus auf die weite, leere Landschaft. Die Wüste. Sein altes Leben war nun ohne Wasser und würde langsam verdursten. Leider auch sein Name, Auden. Das war es, was ihm am meisten weh tat. Nie wieder Auden zu heißen.

Teil 3

20

Es war wie im Krieg, nur friedlicher — aus den geplanten zwei Wochen wurde ein ganzes Jahr.

Zur Erinnerung: Als Kerstin mich fragte, ob wir zu dritt — sie und Simon und ich — das übernächste Wochenende nutzen wollten, um den Berg aufzusuchen, an dem meine Schwester zehn Jahre zuvor ums Leben gekommen war, da drückte ich ihr als Antwort einen Kuß auf die Lippen.

Weniger, weil ich begierig war, mir diesen Berg anzuschauen, aber durchaus begierig, zusammen mit dieser Frau und meinem Sohn eine Reise anzutreten. Für den Moment der Reise eine» Großfamilie «zu sein. Und vielleicht auch darüber hinaus.

Wie günstig darum, daß sie meinen Kuß erwiderte, heftig erwiderte. Und so fügte sich eine Liebkosung an die andere, und wir bewegten uns Arm in Arm in Richtung meines Schlafzimmers. Allerdings löste ich mich auf dem Weg dahin kurz von ihr und schaute zu Simon, ob es ihm auch gutging.

«Was tust du?«flüsterte Kerstin, die hinter mir im Türrahmen stehengeblieben war.

Ich war jetzt tief über das schlafende Kind gebeugt, mein linkes Ohr gegen seinen Mund gerichtet, und hielt mir die Hand in Form eines Trichters an meine Ohrmuschel. Sein Atem war kaum zu hören, so leise ging er, aber er ging. So war das eben. Mitunter schnarchte Simon im Stile eines alten Säufers, dann wieder vernahm ich bloß ein sachtes Schnaufen oder den gleichförmigen Austausch der Kinderzimmerluft.

Als ich zu Kerstin zurückkam und wir die Tür schlossen, sagte ich:»Ich wollte nur nachsehen, ob er atmet.«

«Also, für einen plötzlichen Kindstod ist er schon zu alt, oder?«

«Ich weiß, es ist lächerlich. Aber ich kann nicht anders. Ich muß immer wieder mal sichergehen, daß alles okay ist.«

«Und wie lange willst du das durchziehen? Ich meine, jetzt hat er noch ’nen superfesten Schlaf, aber irgendwann wird er alt genug sein, daß er aufwacht, wenn du dich so auf ihn drauflegst.«

«Ich leg mich nicht auf ihn drauf«, korrigierte ich.

«Na fast«, sagte sie und meinte dann:»Aber du könntest das bei mir machen. Ich lasse gerne bei mir nachprüfen, ob ich noch atme.«

«Mit Vergnügen«, nickte ich, nahm ihre Hand und führte sie ins Schlafzimmer.

Ein wenig hatte ich gefürchtet … nein, nicht gefürchtet, sondern bloß erwartet, daß sie mir nun erklären würde, sich nicht vollständig ausziehen zu wollen. Ja, ich hatte mit einer Wiederholung im Stile Lanas gerechnet, einer deutlichen Parallele zwischen der Frau, die Simon auf die Welt gebracht hatte, und der Konsulatsangestellten, die Simons Reise und Adoption begünstigt hatte. Doch Kerstin sprang mit großer Leichtigkeit aus ihrer gesamten Wäsche und stand bereits nackt vor mir, als ich eben erst mein Hemd ausgezogen hatte und ihr meinen Oberkörper präsentierte.

«Wow!«sagte sie.»Du hast echt eine gute Figur.«

Ich dachte mir, was für ein Glück es war, wieder mit dem Sport angefangen und die Schokolade gestrichen zu haben. Drei Jahre zuvor wäre ich mit einem, wie man so sagt, Schwimmreifen vor ihr gestanden. Und hätte widerlich ausgesehen. Denn etwas in die Breite zu gehen war viel schlimmer, als wenn Männer richtig auseinandergingen, mächtig und voluminös wurden. Am häßlichsten war dieses Angespecktsein, dieses Dicksein der eigentlich Dünnen.

Wie auch immer, ich war froh um den Anblick, den ich bot. Wie aber auch um den Anblick, den Kerstin bot. Sehr mädchenhaft, nicht wie ein Kind, natürlich nicht, aber mehr eine Achtzehnjährige als die Vierundzwanzigjährige, die sie tatsächlich war. Ihr Körper machte auf mich einen chinesischen Eindruck — zierlich, aber nicht zerbrechlich; von nichts zuwenig und von nichts zuviel, etwa ihr Busen, der auch ohne BH gehalten wirkte; die Arme und Beine sehr gerade; ein kleiner Bauch, darauf ein Nabel gleich dem Atemloch eines Delphins; das auf dem Kopf stehende Dreieck rötlicher Schamhaare, das ihrem Geschlecht eine geometrische Disziplin verlieh.

Meine Güte, war ich jetzt schon in dem Alter, wo ich mich nach Frauen sehnte, die noch Mädchen waren oder zumindest mädchenhaft? — Um mich woran zu erinnern? An die Peinlichkeiten beim ersten Mal? Daran, sich nicht auszukennen? Daran, zu früh zu kommen? Daran, sich schmutzig zu fühlen?

«Willst du mich noch lange so anschauen?«unterbrach Kerstin meine Nachdenklichkeit.»Ich meine, du kannst ruhig. Es ist nur komisch, solange du selbst halb angezogen bleibst.«

Ja, das wäre dann wie im Kino gewesen, wenn die Frauen ganz nackt sein mußten und die Männer fortgesetzt mit Badetüchern oder Shorts oder dank Kameraführung von der Taille aufwärts durch die Szenerie liefen.

«Klaro«, sagte ich und schlüpfte aus Hose und Unterhose und streifte mit den Füßen meine Socken ab.

Wir schmiegten uns aneinander und waren ein Paar.

Was hätte Lana dazu gesagt?

Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, ihr untreu zu sein. Die Affären davor waren nur fürs Bett gewesen — als blättere man in einem Sexheftchen, aus dem dann richtige Frauen herausstiegen — , aber jetzt war es anders, ein Gefühl tiefster Zuneigung. Ich zitterte.

«Ist dir kalt?«fragte Kerstin.

«Ja«, antwortete ich. (Ich habe gelesen, der Mensch lügt zweihundertmal am Tag. Mag sein, daß auch diese Zahl eine Lüge ist, aber bei hundertmal am Tag würde ich sofort mit unterschreiben.)

Die Lüge brachte mich zusammen mit Kerstin unter die Decke, wo sich unser Verlangen weiter steigerte.

«Moment«, keuchte ich,»nimmst du die Pille? Oder soll ich mir einen Gummi holen?«

Stimmt, wir waren im einundzwanzigsten Jahrhundert und das Präservativ in einem solchen frühen Stadium obligat. Aber darum fragte ich nicht. Ich verspürte nicht die geringste Angst, mich anzustecken. Als schwebe über Kerstin eine kleine Leuchtschrift, einige hübsch geschwungene Neonröhren, welche die Aufschrift gesund ergaben.

Aber ganz gesund war Kerstin doch nicht. Denn sie schob mich ein klein wenig von sich weg, und ich erkannte die Falte zwischen ihren Augen und den Kummer in ihren ungleichen Augen. Sie sagte:»Ich kann keine Kinder kriegen. Ich hab’s schriftlich. Aber nicht wegen einer Krankheit, die du fürchten müßtest. Wenn du aber … wenn du eine Frau willst, mit der du Kinder haben kannst, dann …«

Obzwar es natürlich zu früh war, so etwas zu sagen, meinte ich dennoch:»Wir haben Simon. Er genügt uns doch, oder?«

«Absolut«, sagte sie und nahm mich fest in ihre Arme. Und ich sie in meine. Nicht, daß wir jetzt verschmolzen, aber für einen gewissen Moment hatte ich das Gefühl, mehr bei ihr als bei mir selbst zu sein. Wie man sagt: zu Besuch am fremden Ort. Und es gibt ja fremde Orte, wo man gar nicht mehr weg möchte.

Aus der einen Nacht wurde ein ganzer Tag und eine weitere Nacht, dann aber mußte Kerstin frühmorgens zurück nach München beziehungsweise München-Taipeh, wie sie es bezeichnete.

Doch zuvor besprachen wir abermals unseren geplanten Ausflug nach Tirol, um den Berg zu sehen, der ja Astri nicht nur das Leben gekostet hatte, sondern auch ihr Lieblingsberg gewesen war. Und dessen österreichischen Erstbesteiger sie zu ihrem Lieblingsalpinisten erkoren hatte, zu ihrem Heiligen. — Blumen an den Fuß dieses Felsens zu legen, wie Kerstin es vorgeschlagen hatte, erschien mir plötzlich als notwendiger Akt, um ein Versäumnis zu bereinigen.

Obgleich nun Kerstin keine Bergsteigerin war und auch niemals eine werden würde, so hatte ich dennoch das Gefühl, als seien in ihr die beiden toten Frauen meines Lebens vereint: Astri + Lana = Kerstin. Ein Eindruck, den ich Kerstin gegenüber verschwieg. Dennoch geschah es, daß ich sie am nächsten Tag einmal mit dem Namen meiner Schwester und einmal mit dem Namen von Simons Mutter ansprach. Beim zweiten Mal schüttelte sie vergnügt den Kopf und fragte mich:»Hättest du mich lieber tot?«