«Abgefahren!«sagte Kerstin.
Ich ging zu Simon und nahm ihn in die Arme. Ich hielt ihn ganz fest. Er hielt mich auch ganz fest. Er spürte wohl, wie sehr ich das jetzt nötig hatte.
Kerstin kam dazu und reichte dem Jungen die Hand. Er nahm sie und lächelte. Kerstin sagte:»Im Zoo schauen sie kleiner aus, finde ich.«
Wir gingen zurück zum Wagen, stiegen ein und fuhren weiter.
Im Radio gaben sie gerade durch, daß ein Strauß entlaufen sei und auf welchen Strecken man die Fahrer zu erhöhter Aufmerksamkeit aufrufe.
«Witzig!«kommentierte Kerstin.
Die Sache war übrigens noch in Deutschland geschehen, für alle, die meinen, so eine Szene zwischen Traum und Wirklichkeit könne sich allein in Österreich zutragen.
23
Doch Österreich kam, und es kam mit den Bergen, für welche dieses Land ja so berühmt ist, obgleich es gar nicht nur aus solchen besteht. Aber ähnlich der Schweiz wird so getan, als handle es sich hierbei um ein europäisches Tibet, ein gewissermaßen nicht von den Chinesen, sondern von den Touristen besetztes Gebiet.
Wir hatten die Fenster offen, so daß der Opel etwas vibrierte. Aber ich fühlte mich jetzt sehr viel sicherer am Steuer, vielleicht wegen der Gewöhnung, vielleicht auch, weil hier alle langsamer fuhren und die ganze Straße sich nicht mehr so nervös anfühlte. Denn Straßen und Autos und Fahrer leben ja ebenfalls in einer Symbiose, wo einer den anderen ansteckt. Im Guten wie im Schlechten.
Nach etwa vier Stunden fuhren wir in Innsbruck ein, wo wir eine erste österreichische Nacht verbringen und uns zuvor noch ein wenig die Stadt ansehen wollten. Das Hotel lag im Zentrum, der Parkplatz im Untergrund, und vom Fenster aus wirkten die Berge ungemein nah, jedoch vom Dunst leicht verhüllt, gedünstet. Den Nachmittag verbrachten wir flanierend in der Altstadt, in welcher die Japaner dominierten. Wie alle anderen standen wir lange vor diesem goldenen Dach. Simon sprang in der üblichen Weise herum, ein imaginäres Laserschwert schwingend. Doch diesmal ließ ich ihn nicht aus den Augen. Wie so viele Eltern schwor ich mir, das soeben Geschehene als Warnung zu begreifen. Als Warnung dafür, was alles passieren konnte, wenn es einmal kein freundlicher Laufvogel wäre, dem das Kind begegnete. Sosehr ich wußte, daß man sein Kind nicht immer und überall schützen konnte, war ich dennoch entschlossen, die Herausforderung des Schicksals anzunehmen. Zumindest ein Auge mußte auf dem Kind bleiben. Gleich einem Aufkleber auf seiner Stirn.
Mit dem anderen Auge betrachtete ich das Dach, welches Dachl hieß und das Wahrzeichen der Stadt bildete. Das Licht fiel günstig und ließ das Gold glühen. Ich sah, wie Simon einen Laserstahl in Richtung der Schindeln abfeuerte. Kerstin hatte sich bei mir eingehakt und las mir aus dem Fremdenführer vor, nannte die Zahl der Schindeln, erwähnte die Figuren, die das Relief des spätgotischen Prunkerkers bevölkerten, erwähnte die mysteriösen, sich hinter den Figuren als Schriftband fortsetzenden Inschriften. Es fielen Namen und Lebensdaten und wem welches Wappen zuzuordnen sei und wer hier einst öffentlich verbrannt worden war. Ich hörte zu, aber so wie in der Schule, wenn gerade keine Prüfung ansteht und man sich eher dem angenehm einschläfernden Klang einer Frauenstimme hingibt. Ich hörte zu, ich sah mit einem Auge auf das Dach, mit dem anderen auf Simon, und trotzdem fühlte ich mich wie in einem Bett, das senkrecht aufgestellt war und mir im Stehen einen weichen Halt bot.
Ich hätte noch lange so verharren können, mit einem Bett im Rücken und der Stimme im Ohr, aber irgendwann hatte Kerstin zu Ende gelesen und meinte, es sei Zeit für die Konditorei, für Kuchen und Kaffee.
Gleich um die Ecke fanden wir ein Lokal, wo man draußen sitzen konnte. Simon bekam einen Becher mit Eis, Kerstin ihre Torte. Ich selbst war weiterhin auf Diät. Man kann sagen, ich hatte seit den Tagen, da ich wieder mit dem Sport angefangen hatte, nicht mehr damit aufgehört, den Süßigkeiten aus dem Weg zu gehen. Dabei sehnte ich mich nach ihnen wie andere nach zärtlichen Momenten. Und war es denn nicht auch zärtlich zu nennen, wie so ein Stück Kuchen im Mund zerging?
Keine Frage, hätte mir jemand verbindlich sagen können, die Welt würde demnächst untergehen, ich hätte augenblicklich diese wunderschöne Maronitorte bestellt, vielleicht auch einen umfangreichen Proviant an Trüffelpralinen besorgt. Aber der Kampf um meine Figur hatte eben auch etwas Lebenserhaltendes. In einer weiterhin bestehenden Welt schien mir die relative Makellosigkeit meines Körpers — abseits der ästhetischen Frage — als Garant dafür, daß die Welt eben nicht untergehen würde. Fett an den Hüften wäre mir als ein Verstoß erschienen, eine Anmaßung und Provokation. — Klar, das mochte ziemlich religiös klingen. Und klar auch, daß man sich dann fragen mußte, wieso angesichts der vielen fetten Menschen auf der Welt sich selbige noch immer drehte (mag sein, in einem bedenklichen Zustand, aber bedenklich im Sinne einer Fußballmannschaft, die Jahr für Jahr mit Ach und Krach nicht absteigt).
Dennoch, ich war gefangen in meiner Haltung und beschränkte mich darauf zuzuschauen, wie ein zugleich flockiges wie von butteriger Schwere beherrschtes Stück Schwarzwälder Kirschtorte zwischen den Lippen Kerstins verschwand. Ich konnte es geradezu schmecken, wie da auf ihrer Zunge diese mühevoll zusammengesetzte Konditorware sich wieder in ihre Einzelteile auflöste und diverse Assoziationen auslöste, von denen aber kaum eine unmittelbar den Schwarzwald betraf. Schon eher die Schwarzwälderinnen (wobei eine von deren Trachten auch in der Tat das Aussehen dieser Torte bestimmt haben könnte).
Ich spürte also, wie da ein in Schwarz und Weiß und mit rotem Bollenhut gewandetes kleines Schwarzwaldmädel sich nach und nach zerteilte, wie es zerging und verschwand. Natürlich kam dieses» Nachempfinden «nicht heran an ein tatsächlich verspeistes Stück Torte. — Wieso eigentlich nicht? Warum war es nicht möglich, das eigene Hirn genau in dieser Weise zu manipulieren und solcherart völlig kalorienfreie Geschmackserlebnisse von höchster Realistik zu ermöglichen?
Wie gerne hätte ich mit Lana darüber diskutiert.
Später spazierten wir noch ein wenig umher, kauften Lebensmittel für unsere Bergwanderung ein und kehrten schließlich ins Hotel zurück. Von meinem Fenster konnte ich auf den Eduard-Wallnöfer-Platz sehen, so benannt nach Tirols langjährigem Landesvater: eine weite, mit kleinen und größeren Erhebungen ausgestattete Fläche aus weißem Beton, man könnte sagen eine» Dauerwelle «von öffentlichem Raum. Die Bäumchen, die aus runden Löchern ragten, waren möglicherweise echt, muteten aber in diesem Ensemble an, als hätte man die Blätter aus grünen Aluminiumfolien gestanzt.
Kerstin fand den Platz toll, eine einzige große Skulptur, die quasi mitten in der Landeshauptstadt gestrandet war. Ein verfestigter Sandstrand für moderne Robinson Crusoes.
Ich merkte allerdings an, daß die meisten Passanten dieser» Bodenplastik «eher auszuweichen schienen. Hatten sie Angst vor der Kunst? Weniger verlegen waren hingegen die vielen Jugendlichen, die die glatten Bodenwellen nutzten, um sie mit ihren Skateboards zu bezwingen. Dabei erzeugten sie ein knirschendes Geräusch, das wolkengleich über dem Platz hing. Wie auch in meinen Ohren.
«Du bist spießig«, meinte Kerstin.
«Ich bin nicht spießig, sondern empfindlich. Wenn ich Skateboards höre, werde ich verrückt. Außerdem ist es ein dummer Sport.«
«Findest du über Hürden zu laufen soviel intelligenter?«
«Es ist ruhiger und eleganter.«
«Na, das kommt darauf an, wer da drüberspringt.«
Ich mochte es nicht, wenn sie in diesem Zusammenhang von» springen «sprach, und das wußte sie.
Wir hatten noch keinen richtigen Streit gehabt, aber es gab häufige Sticheleien (und so war es ja von Beginn an gewesen). Noch war das kein Problem. Die Sticheleien stachen nicht, sie berührten auch nicht, sondern flogen vorbei. Kleine Fliegen, die sich leicht verjagen ließen. Würde das aber so bleiben? Oder würden Wunden entstehen, in die dann die Fliegen ihre Eier legen konnten?