«Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Monsieur. Ich kann nichts für Sie tun.»
«Was soll das heißen?», fragte Van Aldin ärgerlich.
«Wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen, kann ich nichts tun.»
«Ich weiß nicht, was Sie meinen.»
«Das glaube ich doch. Sie können beruhigt sein, Monsieur Van Aldin, ich weiß zu schweigen.»
«Nun denn», sagte der Millionär. «Ich gebe zu, dass ich vorhin nicht die Wahrheit gesagt habe. Ich habe mich noch einmal mit meinem Schwiegersohn in Verbindung gesetzt.»
«Ja?»
«Genau genommen habe ich meinen Sekretär geschickt, Major Knighton, mit der Anweisung, ihm die Summe von hunderttausend Pfund in bar dafür anzubieten, dass er in die Scheidung einwilligt.»
«Eine hübsche Summe», sagte Poirot anerkennend, «und die Antwort von Monsieur Schwiegersohn?»
«Er ließ mir ausrichten, ich sollte zum Teufel gehen», sagte der Millionär betont.
«Ah!», sagte Poirot.
Er zeigte keinerlei Gemütsregung. Im Moment war er damit beschäftigt, methodisch Tatsachen zu sammeln.
«Monsieur Kettering hat der Polizei gesagt, er hätte auf der Reise von England hierher seine Frau weder gesehen noch gesprochen. Sind Sie geneigt, dieser Erklärung zu glauben, Monsieur?»
«Ja, bin ich», sagte Van Aldin. «Er hat sich bestimmt besondere Mühe gegeben, ihr nicht zu begegnen, schätze ich.»
«Warum?»
«Weil er diese Frau bei sich hatte.» «Mirelle?»
«Ja.»
«Wie haben Sie davon erfahren?»
«Einer meiner Leute, die ich auf seine Beobachtung angesetzt hatte, hat mir berichtet, dass beide mit diesem Zug abgereist sind.»
«Ich verstehe», sagte Poirot. «In diesem Fall wird er, wie Sie schon sagten, wohl kaum versucht haben, sich mit Madame Kettering in Verbindung zu setzen.»
Der kleine Mann versank in Schweigen. Van Aldin unterbrach seine Meditationen nicht.
Siebzehntes Kapitel
Sind Sie schon einmal an der Riviera gewesen, Georges?», fragte Poirot am nächsten Morgen seinen Diener.
George war ein zutiefst englisches Individuum mit reglos hölzernen Zügen.
«Ja, Sir. Vor zwei Jahren, als ich im Dienst von Lord Edward Frampton stand.»
«Und jetzt», murmelte sein Dienstherr, «stehen Sie im Dienst von Hercule Poirot. Welch ein Aufstieg in der Welt!»
Der Diener beliebte nicht auf diese Bemerkung zu reagieren. Nach geziemender Pause fragte er:
«Den braunen Anzug, Sir? Es ist heute etwas kühl.»
«Auf der Weste ist ein Fettfleck», wandte Poirot ein. «Ein morceau von Filet de sole a la Jeanette hat sich dort niedergelassen, als ich vorigen Dienstag im RJt% gegessen habe.»
«Da ist jetzt kein Fleck mehr, Sir», sagte George vorwurfsvoll. «Ich habe ihn entfernt.»
«Tres bien!», sagte Poirot. «Ich bin zufrieden mit Ihnen, Georges.»
«Danke, Sir.»
Eine Pause trat ein, dann murmelte Poirot verträumt:
«Stellen Sie sich vor, mein lieber Georges, Sie wären in derselben gesellschaftlichen Sphäre auf die Welt gekommen wie Ihr letzter Herr, Lord Edward Frampton — Sie hätten, ohne eigenes Geld, eine äußerst wohlhabende Frau geheiratet, aber diese Frau wollte sich aus guten Gründen von Ihnen scheiden lassen, was würden Sie da unternehmen?»
«Ich würde versuchen, Sir», antwortete George, «sie davon abzubringen.»
«Friedlich oder gewaltsam?»
George blickte schockiert drein.
«Verzeihen Sie, Sir», sagte er, «aber ein Gentleman aus der Aristokratie würde sich doch nicht wie ein Fischhändler aus Whitechapel benehmen. Er würde nichts Unstandesgemäßes tun.»
«Würde er nicht, Georges? Tja, ich frage mich. Aber vielleicht haben Sie Recht.»
Es klopfte. George ging zur Tür und öffnete sie diskret einen Spaltbreit. Es folgte eine gemurmelte Konversation, dann kam der Diener zurück zu Poirot.
«Ein Brief, Sir.»
Poirot nahm ihn entgegen. Er war von Monsieur Caux, dem Polizeikommissar.
«Wir sind eben dabei, den Comte de la Roche zu verhören. Der Juge d’ Instruction bittet um Ihre Anwesenheit.»
«Rasch meinen Anzug, Georges! Ich muss mich beeilen.»
Trefflich herausgeputzt in seinem braunen Anzug betrat Poirot eine Viertelstunde später das Büro des Untersuchungsrichters. Monsieur Caux war bereits dort, und wie Carrege begrüßte er Poirot mit höflichem empressement.
«Die Affäre ist ein wenig entmutigend», murmelte Caux. «Wie es scheint, ist der Comte am Tag vor dem Mord in Nizza eingetroffen.»
«Wenn das stimmt, ist Ihre hübsche Theorie erledigt», antwortete Poirot.
Carrege räusperte sich.
«Wir dürfen dieses Alibi nicht ohne äußerst umsichtige Nachforschungen hinnehmen», erklärte er. Mit der Hand betätigte er die Glocke auf seinem Schreibtisch.
Bald darauf trat ein großer, dunkelhaariger Mann ein, vorzüglich gekleidet, mit einer etwas hochmütigen Miene. So aristokratisch sah der Comte aus, dass es wie die schiere Ketzerei anmutete, auch nur im Flüsterton zu äußern, sein Vater sei ein kleiner Getreidehändler in Nantes gewesen — was tatsächlich der Fall war. Bei seinem Anblick wäre man bereit gewesen zu beschwören, dass zahllose seiner Ahnen während der Französischen Revolution auf der Guillotine umgekommen sein mussten.
«Da bin ich, meine Herren», sagte der Comte hochmütig. «Darf ich fragen, warum Sie mich sprechen wollen?»
«Nehmen Sie doch bitte Platz, Monsieur le Comte», sagte der Untersuchungsrichter höflich. «Es geht um den Tod von Madame Kettering, wir ermitteln in dieser Angelegenheit.»
«Den Tod von Madame Kettering? Ich verstehe nicht.»
«Ich glaube, Sie waren mit der Dame — ahemm! — bekannt, Monsieur le Comte?»
«Gewiss war ich mit ihr bekannt! Was hat das mit der Angelegenheit zu tun?»
Er klemmte ein Monokel ins Auge und sah sich eisig im Zimmer um, dabei ruhte sein Blick am längsten auf Poi-rot, der ihn mit einer Art schlichter Bewunderung anstarrte, die der Eitelkeit des Grafen durchaus schmeichelte. Monsieur Carrege lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und räusperte sich.
«Sie wissen vielleicht nicht, Monsieur le Comte» — er machte eine Pause — «dass Madame Kettering ermordet wurde?»
«Ermordet? Mon Dieu, wie furchtbar!»
Überraschung und Schmerz waren trefflich gespielt — so gut, dass sie ganz echt wirkten.
«Madame Kettering wurde im Zug zwischen Paris und Lyon erdrosselt», fuhr Carrege fort, «und ihr Schmuck geraubt.»
«Es ist schändlich!», rief der Graf hitzig. «Die Polizei müsste etwas gegen diese Bahnräuber unternehmen. Heutzutage ist doch keiner mehr sicher.»
«In Madames Handtasche», fuhr der Richter fort, «fanden wir einen Brief von Ihnen. Wie es scheint, hatten Sie ein Treffen mit Madame vereinbart?»
Der Graf hob die Schultern und breitete die Arme aus. «Was nützt alle Heimlichkeit?», sagte er freimütig. «Wir sind doch alle Männer von Welt. Privat, ganz unter uns, gebe ich die Affäre zu.»
«Sie haben sie in Paris getroffen und sind mit ihr hierher gereist, nehme ich an?», sagte Monsieur Carrege.
«So war es ursprünglich vorgesehen, aber auf Madames Wunsch wurde der Plan geändert. Ich sollte sie in Hyeres treffen.»
«Sie haben sie nicht im Gare de Lyon am Abend des Vierzehnten im Zug getroffen?»
«Im Gegenteil, ich bin am Morgen des gleichen Tages in Nizza angekommen; was Sie da nahe legen, ist also ganz unmöglich.»
«Gewiss, gewiss», sagte Carrege. «Nur der Vollständigkeit halber könnten Sie mir vielleicht berichten, was Sie am Abend des Vierzehnten und in der folgenden Nacht getan haben.»