«Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen. Offensichtlich war sie zu einem Entschluss gelangt. Sie wirkte später fröhlicher.»
«Sie haben aber keine Ahnung, wo sie diesen Fiesling treffen wollte — in Paris oder in Hyeres?»
Katherine schüttelte den Kopf.
«Darüber hat sie nichts gesagt.»
«Ah!», sagte Van Aldin nachdenklich, «und das ist der springende Punkt. Tja, die Zeit wird es an den Tag bringen.»
Er stand auf und öffnete die Tür zum Nebenraum. Poi-rot und Knighton traten wieder ein.
Katherine lehnte die Einladung des Millionärs zum Essen ab, und Knighton begleitete sie nach unten und half ihr in den wartenden Wagen. Als er zurückkehrte, fand er Poirot und Van Aldin ins Gespräch vertieft.
«Wenn wir nur wüssten», sagte der Millionär nachdenklich, «zu welchem Entschluss Ruth gekommen ist. Es gibt ein halbes Dutzend Möglichkeiten. Vielleicht wollte sie den Zug in Paris verlassen und mir telegrafieren. Oder sie hatte die Absicht, weiter nach Südfrankreich zu fahren, um hier eine Aussprache mit dem Grafen herbeizuführen. Wir tappen vollkommen im Dunkeln — absolut im Dunkeln. Durch die Zofe wissen wir, dass sie von seinem plötzlichen Auftauchen auf dem Bahnhof in Paris überrascht und sogar betroffen war. Dieses Zusammentreffen war also offenbar nicht im Programm vorgesehen. Stimmen Sie mir zu, Knighton?»
Der Sekretär fuhr auf. «Ich bitte um Entschuldigung, Mr Van Aldin! Ich habe nicht zugehört.»
«Sie träumen wohl, was?», sagte Van Aldin. «Ist doch sonst nicht Ihre Art. Ich glaube, das Mädchen hat Sie umgehauen.»
Knighton wurde rot.
«Ein bemerkenswert nettes Mädchen», sagte Van Aldin versonnen, «sehr nett. Haben Sie zufällig ihre Augen bemerkt?»
«Ihre Augen», antwortete Knighton, «muss wohl jeder Mann bemerken.»
Einundzwanzigstes Kapitel
Einige Tage waren verstrichen. Katherine hatte eines Morgens einen einsamen Spaziergang gemacht, und als sie zurückkehrte, grinste Lenox ihr erwartungsvoll entgegen.
«Dein Verehrer hat angerufen, Katherme!»
«Wen meinst du?»
«Einen neuen — Rufus Van Aldins Sekretär. Du scheinst da einen ziemlichen Eindruck hinterlassen zu haben. Aus dir wird noch eine richtige Herzensbrecherin. Zuerst Derek Kettering und jetzt dieser junge Knighton. Das Lustige an der Geschichte ist, ich erinnere mich noch gut an ihn. Er war in Mutters Lazarett, das sie hier draußen hatte. Da war ich noch ein Kind, so um die acht.»
«War er schwer verwundet?»
«Ein Beinschuss, wenn ich mich nicht irre — ziemlich scheußliche Sache. Ich glaube, die Ärzte haben da einiges versaut. Sie haben gesagt, er würde nichts davon zurückbehalten, aber als er von hier wegging, hinkte er immer noch.»
Lady Tamplin kam heraus und gesellte sich zu ihnen.
«Hast du Katherine von Major Knighton erzählt?», fragte sie. «So ein netter Kerl! Zuerst habe ich mich nicht an ihn erinnert — es gab ja so viele —, aber jetzt ist mir wieder alles gegenwärtig.»
«Damals war er auch ein bisschen zu unwichtig, um sich an ihn zu erinnern», sagte Lenox. «Heute, wo er Sekretär des amerikanischen Millionärs ist, liegen die Dinge ganz anders.»
«Liebling!», sagte Lady Tamplin in ihrem vage tadelnden Ton.
«Warum hat Major Knighton angerufen?», erkundigte sich Katherine.
«Er fragte, ob du Lust hättest, heute Nachmittag zum Tennis zu kommen. Wenn ja, würde er dich mit dem Auto abholen. Mutter und ich haben in deinem Namen angenommen, avec empressement. Und wenn du mit dem Sekretär eines Millionärs herumflirtest, könntest du mir doch eine Chance mit dem Millionär verschaffen, Katherine. Er muss so um die sechzig sein, nehme ich an, also wird er bestimmt gerade nach einem süßen jungen Ding wie mir suchen.»
«Ich würde Mr Van Aldin gern kennen lernen», sagte Lady Tamplin ernst, «man hat so viel von ihm gehört. Diese prächtigen rauen Gestalten aus dem Westen», sie brach ab, «faszinierend.»
«Major Knighton hat ausdrücklich betont, dass es Mr Van Aldins Einladung ist», sagte Lenox. «Er hat das so oft gesagt, dass es mir verdächtig vorkam. Du und Knigh-ton, ihr würdet ein sehr hübsches Paar abgeben. Meinen Segen habt ihr, Kinder.»
Katherine lachte und ging nach oben, um sich umzuziehen.
Knighton kam bald nach dem Mittagessen und ließ Lady Tamplins Szene des Wiedererkennens mannhaft über sich ergehen.
Als sie unterwegs nach Cannes waren, sagte er zu Ka-therine: «Lady Tamplin ist wunderbar unverändert.»
«In der Art oder im Aussehen?»
«Beides. Ich nehme an, sie muss gut über vierzig sein, aber sie ist noch immer eine bemerkenswert schöne Frau.»
«Das stimmt», sagte Katherine.
«Ich freue mich sehr, dass Sie heute mitkommen können», fuhr Knighton fort. «Monsieur Poirot wird auch dort sein. Was für ein außerordentlicher kleiner Mann! Kennen Sie ihn gut, Miss Grey?»
Katherine schüttelte den Kopf. «Ich habe ihn erst im Zug kennen gelernt, auf dem Weg hierher. Ich las gerade einen Detektivroman und habe beiläufig gesagt, dass so etwas im wirklichen Leben nicht passiert. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wer er ist.»
«Er ist ein ganz bemerkenswerter Mensch», sagte Knighton langsam, «und hat einige außerordentliche Dinge getan. Er ist ein Genie darin, den Dingen auf den Grund zu kommen, und bis zum Schluss hat niemand eine Ahnung, was er wirklich denkt. Ich weiß noch, wie ich einmal zu Besuch in einem Haus in Yorkshire war, als Lady Clanravons Schmuck gestohlen wurde. Zuerst schien es ein ganz gewöhnlicher Diebstahl zu sein, aber die dortige Polizei war absolut ratlos. Ich wollte, dass sie Hercule Poirot hinzuziehen, und habe ihnen gesagt, er wäre der Einzige, der ihnen helfen kann, aber sie haben ihr Vertrauen auf Scotland Yard gesetzt.»
«Und was geschah weiter?», fragte Katherine neugierig.
«Der Schmuck wurde nie gefunden», sagte Knighton trocken.
«Sie glauben also wirklich an ihn?»
«Ja, unbedingt. Der Comte de la Roche ist ziemlich gerissen. Er hat seinen Kopf schon aus einigen Schlingen gezogen, aber in Hercule Poirot wird er seinen Meister finden.» «Der Comte de la Roche», sagte Katherine nachdenklich, «Sie meinen also wirklich, dass er es getan hat?»
«Natürlich.» Knighton sah sie erstaunt an. «Sie nicht?»
«O doch», sagte Katherine eilig, «das heißt, ich meine, wenn es kein gewöhnlicher Bahnraub war.»
«Das könnte natürlich sein», stimmte er zu, «mir scheint aber, dass der Comte de la Roche bemerkenswert gut ins Bild passt.»
«Aber er hat ein Alibi.»
«Ach, Alibis!» Knighton lachte; sein Gesicht zeigte ein angenehm jungenhaftes Lächeln.
«Sie gestehen, dass Sie gern Detektivromane lesen, Miss Grey. Dann müssten Sie doch eigentlich wissen, dass jeder, der ein perfektes Alibi hat, besonders verdächtig ist.»
«Glauben Sie, dass es im wirklichen Leben so ist?», fragte Katherine lächelnd.
«Warum nicht? Dichtung beruht auf Wahrheit.»
«Ist ihr aber weit überlegen», sagte Katherine.
«Vielleicht. Jedenfalls hätte ich, wenn ich ein Verbrecher wäre, nicht gern Hercule Poirot auf den Fersen.»
«Ich auch nicht», sagte Katherine und lachte.
Als sie ankamen, wurden sie von Poirot empfangen. Da es ein warmer Tag war, trug er einen weißen Leinenanzug mit einer weißen Kamelie im Knopfloch.
«Bonjour, Mademoiselle», sagte Poirot. «Ich sehe sehr englisch aus, nicht wahr?»