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Poirot beugte sich vor. Er hob emphatisch den Zeigefinger und fuchtelte mit ihm vor Van Aldin herum.

«Aber ich bin ein guter Detektiv. Ich verdächtige. Es gibt niemanden und nichts, den und das ich nicht verdächtige. Ich glaube nichts, was man mir erzählt. Ich sage mir: Woher wissen wir, dass Ada Mason in Paris zurückgeblieben ist? Und die erste Antwort auf die Frage schien durchaus befriedigend. Es gab die Aussage Ihres Sekretärs, Major Knighton, eines gänzlich Außenstehenden, dessen Aussage man für absolut unparteiisch halten darf, und die Worte Ihrer Tochter zum Schaffner. Aber diesen letzteren Punkt habe ich vorläufig beiseite gelassen, weil mir eine ganz merkwürdige Idee kam — eine vielleicht phantastische und unmögliche Idee. Wenn sie zufällig richtig sein sollte, wäre die erwähnte Aussage wertlos.

Ich habe mich auf den wichtigsten Stolperstein bei meiner Theorie konzentriert, Major Knightons Aussage, er hätte Ada Mason im Ritz gesehen, nachdem der Blaue Express Paris verlassen hatte. Das schien eindeutig genug, aber bei sorgsamer Untersuchung der Fakten sind mir zwei Kleinigkeiten aufgefallen. Erstens, dass Major Knighton — merkwürdiger Zufall — auch gerade erst seit zwei Monaten in Ihren Diensten stand. Zweitens, dass der Anfangsbuchstabe seines Nachnamens ein K ist. Angenommen — nur angenommen —, dass es sein Zigarettenetui ist, das man im Abteil gefunden hat? Falls nun Ada Mason und er zusammengearbeitet haben und sie das Etui erkennt, als wir es ihr zeigen, würde sie dann nicht genau so reagieren, wie sie reagiert hat? Zuerst war sie erschrocken und hat schnell eine plausible Theorie entwickelt, die zu Mr Ketterings Schuld passen würde. Bien entendu, das war nicht die ursprüngliche Idee. Der Comte de la Roche sollte der Sündenbock sein; allerdings durfte Ada Mason ihn nicht zu gut erkannt haben, falls er ein Alibi hatte. Wenn Sie sich jetzt genau an diesen Moment erinnern, wird Ihnen ein bedeutsames Vorkommnis wieder einfallen. Ich habe Ada Mason suggeriert, dass der Mann, den sie gesehen hatte, nicht der Comte de la Roche, sondern Derek Kettering gewesen sein könnte. Zuerst schien sie unsicher, aber als ich wieder in meinem Hotel war, haben Sie mir telefonisch mitgeteilt, dass sie zu Ihnen gekommen ist und gesagt hat, nach nochmaliger Überlegung sei sie ziemlich überzeugt, dass der fragliche Mann wirklich Mr Kettering war. Ich hatte so etwas erwartet. Es konnte nur eine Erklärung für ihre plötzliche Gewissheit geben. Nachdem sie Ihr Hotel verlassen hatte, hatte sie die Zeit gehabt, sich mit jemandem zu beraten, und sie hatte Anweisungen erhalten, nach denen sie nun handelte. Wer hatte ihr diese Anweisungen gegeben? Major Knighton. Und da gab es noch eine Kleinigkeit, die entweder nichts oder sehr viel bedeuten konnte. Während einer beiläufigen Unterhaltung hat Knighton von einem Juwelenraub geredet, in einem Haus in Yorkshire, in dem er sich gerade aufhielt. Vielleicht nur ein Zufall — vielleicht ein weiteres winziges Glied in der Kette.»

«Aber eines verstehe ich nicht, Monsieur Poirot. Wahrscheinlich bin ich schwer von Begriff, sonst hätte ich wohl schon längst darauf kommen müssen. Wer war der Mann im Zug in Paris? Derek Kettering oder der Comte de la Roche?»

«Das ist die bemerkenswerte Einfachheit des Ganzen. Es gab keinen Mann. Ah — mille tonnerres! — sehen Sie nicht, wie gerissen das Ganze war? Wessen Wort haben wir denn dafür, dass überhaupt ein Mann da war? Nur das von Ada Mason. Und wir glauben Ada Mason, weil Knighton bestätigt hatte, dass sie in Paris zurückgeblieben ist.»

«Aber Ruth hat doch dem Schaffner selbst gesagt, dass sie ihre Zofe in Paris gelassen hat», beharrte Van Aldin.

«Ah! Darauf komme ich jetzt. Wir haben Mrs Ketterings eigene Aussage, aber andererseits haben wir ihre Aussage nicht, weil nämlich, Monsieur Van Aldin, eine Tote keine Aussage machen kann. Es ist nicht ihre Aussage, sondern die des Schaffners — etwas ganz anderes.»

«Der Schaffner hat also gelogen?»

«Nein, nein, überhaupt nicht. Er hat das gesagt, was er für die Wahrheit hielt. Aber die Frau, die ihm gesagt hat, sie hätte ihre Zofe in Paris gelassen, war nicht Mrs Kettering.»

Van Aldin starrte ihn an.

«Monsieur Van Aldin, Ruth Kettering war tot, bevor der Zug den Gare de Lyon in Paris erreichte. Es war Ada Mason, die in den auffälligen Kleidern ihrer Herrin einen Speisekorb besorgt und dem Schaffner gegenüber diese höchst notwendige Äußerung getan hat.»

«Unmöglich!»

«Nein, nein, Monsieur Van Aldin, nicht unmöglich. Les femmes, sie sehen einander heutzutage so ähnlich, dass man sie mehr an der Kleidung erkennt als am Gesicht. Ada Mason war so groß wie Ihre Tochter. In dem kostbaren Pelzmantel und mit dem tief ins Gesicht gedrückten roten Lackhütchen, unter dem man nur ein paar kastanienbraune Locken über den Ohren sah, konnte sie den Schaffner leicht täuschen. Vergessen Sie nicht, er hatte bis dahin nicht mit Mrs Kettering gesprochen. Zwar hatte er einen Moment lang die Zofe gesehen, aber er konnte sich da nur an eine hagere, schwarz gekleidete Frau erinnern. Nur ein außergewöhnlich intelligenter Mensch wäre vielleicht auf die Idee gekommen, dass Herrin und Zofe einander ähneln, aber selbst das ist sehr unwahrscheinlich. Und vergessen Sie nicht, Ada Mason, oder Kitty Kidd, ist Schauspielerin und kann ihr Aussehen und den Klang ihrer Stimme im Nu verändern. Nein, nein, es bestand keine Gefahr, dass er die Zofe in den Kleidern der Herrin erkennt, wohl aber, dass er später angesichts der Leiche darauf kommt, dass das nicht die Frau ist, mit der er am Vorabend gesprochen hat. Und hier haben wir den Grund für das entstellte Gesicht. Die einzig wirkliche Gefahr für Ada Mason war, dass Katherine Grey noch einmal ins Abteil kommen könnte, nachdem der Zug Paris verlassen hatte, und dagegen schützt sie sich, indem sie den Speisekorb bestellt und sich dann im Abteil einschließt.»

«Aber wer hat Ruth getötet? Und wann?»

«Merken Sie sich zunächst, dass das Verbrechen von beiden gemeinsam geplant und ausgeführt wurde — Knighton und Ada Mason haben zusammengearbeitet. Knighton hatte an diesem Tag für Sie geschäftlich in Paris zu tun. Er ist irgendwo auf der Pariser ceinture auf den Zug gesprungen. Mrs Kettering war über sein plötzliches Erscheinen sicher erstaunt, aber sie schöpfte bestimmt keinen Verdacht. Vielleicht lenkt er ihre Aufmerksamkeit auf etwas vor dem Fenster, und als sie sich umdreht, um hinauszuschauen, legt er ihr die Schnur um den Hals — alles ist in ein paar Sekunden vorbei. Die Tür des Abteils wird abgeschlossen, und er und Ada Mason machen sich an die Arbeit. Sie ziehen der Toten die Oberkleidung aus. Mason und Knighton wickeln die Leiche in eine Decke und legen sie im Nebenabteil auf den Sitz, zwischen die Koffer und Taschen. Knighton springt mit den Rubinen in der Schmuckschatulle vom Zug ab. Da angenommen wird, dass das Verbrechen erst fast zwölf Stunden später begangen wurde, ist er völlig in Sicherheit, und seine Aussage und das Gespräch der vermeintlichen Mrs Kettering mit dem Schaffner ergeben ein perfektes Alibi für seine Komplizin.

Im Gare de Lyon kauft Ada Mason einen Speisekorb, schließt sich in der Toilette ein, zieht schnell die Kleider ihrer Herrin an, macht zwei Büschel braunrote Locken am Hut fest und richtet sich insgesamt so her, dass sie Mrs Kettering möglichst ähnlich sieht. Als der Schaffner kommt, um das Bett zu machen, erzählt sie ihm die vorher ausgedachte Geschichte, dass sie die Zofe in Paris gelassen hat. Und während er das Bett macht, steht sie am Fenster und schaut hinaus, mit dem Rücken zum Korridor und zu den dort Vorübergehenden. Das war eine kluge Vorsichtsmaßnahme; wie wir wissen, war ja Miss Grey unter den Vorübergehenden, und wie einige andere war sie ja bereit zu schwören, dass Mrs Kettering um diese Zeit noch gelebt hat.»

«Weiter», sagte Van Aldin.

«Ehe der Zug Lyon erreichte, hat Ada Mason die Leiche ihrer Herrin auf das Lager gebettet, die Kleider der Toten sauber am Fußende zusammengefaltet, selber Männerkleider angezogen und sich bereitgemacht, den Zug zu verlassen. Als Derek Kettering ins Abteil seiner Frau kam und sie, wie er meinte, schlafen sah, ist die Bühne längst fertig, und Ada Mason hat sich in dem anderen Abteil versteckt und wartet auf die Gelegenheit, den Zug unbemerkt zu verlassen. Sobald der Schaffner in Lyon auf den Bahnsteig gesprungen ist, folgt sie ihm und schlendert umher, als ob sie nur ein bisschen frische Luft schnappen will. In einem unbeobachteten Moment eilt sie auf den anderen Bahnsteig und fährt mit dem ersten Zug zurück nach Paris und zum Ritz. Ihr Name ist schon am Vorabend durch eine von Knightons Komplizinnen in die Hotelliste eingetragen worden. Sie braucht also nichts weiter zu tun, als seelenruhig auf Ihre Ankunft zu warten. Der Schmuck war weder zu diesem noch zu einem anderen Zeitpunkt in ihrem Besitz. Auf Knighton fällt keinerlei Verdacht, und als Ihr Sekretär bringt er die Juwelen nach Nizza, ohne die geringste Gefahr einer Entdeckung. Die Übergabe der Juwelen an Monsieur Papopoulos ist längst arrangiert, und im letzten Moment werden sie Ada Mason übergeben, die sie dem Griechen bringen soll. Insgesamt ein sehr sauber geplanter Coup, wie man ihn von einem Meister in diesem Spiel wie dem Marquis erwarten kann.»